Haus des Blutes
merken. Dissoziation nannten Experten das. Nein, so fühlte sie sich ganz und gar nicht. Sie hatte in ihrem ganzen Leben noch nie den Eindruck gehabt, sich so sehr im Einklang mit ihren Sinnen und ihren Emotionen zu befinden. Tatsächlich schien sie sogar hypersensibel zu sein. Die Hand an ihrem Geschlecht fühlte sich wie ein warmer, vibrierender Handschuh an.
Hmm … irgendeine seltsame Libido-Droge vielleicht?
Sie zog ihre Hand erschrocken zurück, als sie hörte, wie sich der Türknauf bewegte. Dream drehte ihren Kopf nach rechts und sah Miss Wickman, die mit einem Tablett hereinkam. Sie stellte es auf einem Klapptisch neben dem Bett ab, verschränkte die Arme unter ihren Brüsten und sagte: »Der Meister bat mich, Ihnen zu sagen, dass er bald wieder bei Ihnen sein wird. Er hat etwas Geschäftliches zu erledigen.«
Ihr Blick wanderte an Dreams entblößtem Körper hinunter, bevor sie hinzufügte: »In der Ankleide hängt ein Bademantel für Sie, falls Sie den Wunsch verspüren sollten, sich zu … bedecken.«
Sie drehte sich um und verließ das Zimmer, bevor Dream die Möglichkeit hatte, eine passende Antwort zu formulieren oder sich nach ihren Freundinnen zu erkundigen. Die Tür fiel ins Schloss und Dream war wieder allein. Sie stützte sich auf ihrem Ellenbogen ab und betrachtete das kulinarische Angebot auf dem Tablett. Eine Porzellantasse, randvoll mit dampfendem Kaffee, stand neben einem Teller mit hübsch arrangierten Schokoladentrüffeln. Dream knurrte der Magen, und ihr wurde bewusst, wie lange es schon her war, seit sie das letzte Mal etwas gegessen hatte. Seit sie Dan in flagranti erwischt hatte, waren sämtliche Mahlzeiten ersatzlos ausgefallen.
Sie rutschte an die Bettkante heran, nahm sich einen Trüffel und knabberte darauf herum. Ein paar Krümel bröselten von ihrem Mundwinkel auf die Matratze. Sie wischte sie weg, stieg aus dem Bett – endlich! – und ging zur Ankleide hinüber. Der großzügige Raum war mit teuren Anzügen gefüllt. Maßgeschneiderten Schmuckstücken, die jedes hohe Tier mit Sinn für Stil und zeitgemäße Eleganz mit Stolz getragen hätte.
Darüber hinaus entdeckte sie eine merkwürdig anmutende Ansammlung von Kleidungsstücken aus anderen Epochen: Westen, Rüschenhemden, Jacketts aus der Zeit Eduards VII. und Tweedmäntel mit Flicken an den Ärmeln. Dazu gesellte sich ein Hutständer mit Filzkappen, Melonen, Zylindern und einem Cowboyhut aus Leder, um den ein geflochtenes Band geschlungen war. Teilweise wirkten die Sachen, als gehörten sie in ein Museum. Dream fragte sich, wie lange es her sein mochte, dass er einige dieser Klamotten getragen hatte.
Warum sollte er solche uralten Fetzen aufbewahren?
Konnte ein Wesen wie King so etwas wie Nostalgie empfinden?
Dream zog einen Frotteebademantel von einem Kleiderbügel, streifte ihn über und zuckte zusammen, als der Stoff ihre nackte Haut berührte. Der Verdacht, dass ihre Sinneswahrnehmung durch einen unbekannten Faktor geschärft wurde, wuchs. Sie zog den Gürtel ganz fest um ihre Taille, verknotete ihn und ging ins Schlafzimmer zurück. Dann trug sie das Tablett vorsichtig auf den Balkon, stellte es auf dem Tisch ab und hielt sich mit beiden Händen am Geländer fest.
Ihre Stimme sank zu einem atemlosen Flüstern herab. »Oh … mein …«
Die Aussicht war einfach spektakulär. Erst jetzt wurde ihr bewusst, wie weit sie und ihre Freunde in der Nacht zuvor tatsächlich gefahren sein mussten. Offenbar viel zu müde, um die schiere Größe von Kings Anwesen richtig einzuschätzen, das allem Anschein nach auf einer eindrucksvollen Anhöhe stand, möglicherweise sogar auf dem Gipfel eines hohen Berges.
Als sie sich dem Gebäude in der vergangenen Nacht genähert hatten, war es ihr nicht so erschienen, aber Dream hatte es sich längst abgewöhnt, diese Umkehrungen der Realität infrage zu stellen. Der hintere Teil des Hauses erstreckte sich scheinbar meilenweit in beide Richtungen. Dutzende von Giebelfenstern boten die Aussicht auf dasselbe atemberaubende Panorama aus Bergen, Wald und Wiesen. Sie entdeckte eine tief hängende Wolke, die sich lethargisch über die Landschaft am Boden schob.
Es war einfach wundervoll.
Es zerriss einem das Herz.
Dream bekam weiche Knie und zwang sich, ihren Blick abzuwenden. Sie ließ sich auf dem Korbsessel nieder, griff nach der Tasse mit dem noch immer warmen Kaffee und nippte daran. Köstlich, aber irgendwie hatte sie gewusst, dass er so schmecken würde. Sie stellte das Getränk
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