Haus des Blutes
tief.
Dream hätte sich keinen erschöpfteren Laut vorstellen können.
Und er wirkte in der Tat sehr müde. Sie betrachtete ihn eingehender. Seine Augen. Seine Gesichtszüge. Seine Haltung. Sie war ganz sicher, dass sich das, was sie sah, nicht mit bloßer körperlicher Erschöpfung vergleichen ließ. Seine Augen spiegelten eine seelische Ermattung wider. Was sie sah, verstärkte ihren Verdacht bezüglich seines Gemütszustands. Eine spontane Erkenntnis schien eine Tür in ihrem Kopf aufzustoßen, die ihr bislang verschlossen geblieben war.
Es fühlte sich an wie eine hellseherische Vorahnung.
King wandte seinen Blick von ihr ab. »Nein, Dream, du bist nicht wie ich. Du wirst keine 1000 Jahre leben. Du wirst nicht mitansehen, wie Imperien entstehen und zerfallen. Stell dir das nur mal vor, Dream. Ein Leben, das so lange dauert, dass sich alles, was du überhaupt erleben kannst, gleich mehrere Male abspielt. Mit Ausnahme der Liebe natürlich.«
Der gequälte Klang seiner Stimme ließ sie erschaudern. »Du willst Aufrichtigkeit, Dream? Hier hast du deine Aufrichtigkeit: Ich töte. Das ist es, was ich tue. Es ist mein Daseinszweck. Das kann ich nicht ändern und das will ich auch gar nicht. Solange ich in dieser Welt lebe, werde ich genau das tun.« Er seufzte noch einmal tief. »Ich hätte dich letzte Nacht getötet, wenn unsere gemeinsame Zeit nicht eine so überirdische Erfahrung gewesen wäre. Nun weiß ich, was für eine Verschwendung das wäre. Welch ein Hohn.«
Dream erschauderte. »Dann hängt mein Schicksal also nicht länger am seidenen Faden, Ed?«
»Ich werde dich nicht töten.«
Dream hielt seinem Blick stand. »Ich habe keine Angst vor dem Tod, Ed. Wusstest du das?«
Er betrachtete sie einen Moment lang eindringlich und neigte seinen Kopf. »Ich spüre es, ja. Ich schätze, das ist einer der Gründe, warum ich dich so … faszinierend finde.«
Er stieß sich vom Geländer ab, trat neben den Korbstuhl und kniete vor ihr nieder. Er legte ihre linke Hand in seine, drehte ihre Handfläche nach oben und folgte mit der Spitze seines Zeigefingers den kleinen weißen Narben. Dream seufzte wohlig auf, als er sie berührte – er besaß die Fähigkeit, ihre Narben in eine weitere erogene Zone zu verwandeln, und das machte sie beinahe wahnsinnig.
»Dein bereitwilliger Flirt mit deinem eigenen Tod berührt mich. Ich glaube im Gegensatz zu vielen anderen deiner Art nicht, dass Selbstmord eine feige Tat ist. Es zeugt von seltenem Mut, einem unerschrockenen Verlangen, endlich jene Glückseligkeit zu erleben, die jenseits dieser verfallenden Welt auf einen wartet.«
Es zeugt von einem großen Haufen selbstgerechter Scheiße, dachte Dream.
Was sie nur allzu gut wusste, schließlich hatte sie ganz ähnliche Gedanken gegenüber einer Vielzahl unterschiedlicher Therapeuten geäußert, wenn vielleicht auch nicht ganz so poetisch. Sie war klug genug, um zu erkennen, wenn jemand versuchte, ihre Schwächen auszunutzen. Es war die unheimliche, niederträchtige, hinterhältige Taktik eines absoluten Riesenarschlochs, aber sie war verdammt noch mal äußerst wirkungsvoll.
Es war genau das, was sie immer hatte hören wollen.
Ihre Augen füllten sich mit Tränen.
Ihre Schultern zitterten.
King schlang seine Arme um sie und sie schluchzte minutenlang an seiner Schulter. Die Umarmung fühlte sich gut an, natürlich, tröstlich – als hielte sie sich am sichersten Ort der Welt auf. Dass diese Vorstellung schierer Wahnsinn war – sicher in den Armen eines Monsters? –, war vollkommen irrelevant. Im Moment wäre sie nirgendwo lieber gewesen.
Als ihr Schluchzen schließlich verstummte, löste sie sich eher widerwillig aus der Liebkosung. »Es tut mir leid.« Ihre Stimme klang gedämpft. »Das passiert mir andauernd. Anscheinend besitze ich nicht das kleinste beschissene bisschen Selbstkontrolle.« Sie schniefte. »Es ist wirklich peinlich.«
King schaute sie sehr ernst an. »Du bist wunderschön, Dream. Alles an dir ist wunderschön. Selbst dein Kummer, der nur das Resultat eines verletzten Herzens ist.«
Das war zwar ein wenig übertrieben, aber sie ließ es im Raum stehen. »Du hast etwas von einer Glückseligkeit jenseits dieser Welt erwähnt. Meintest du damit …« Sie zögerte. Der Gedanke klang selbst in ihrem Kopf vollkommen albern, aber sie wägte ihn gegen alles andere ab, was sie bereits erlebt hatte, und sprach es einfach aus. »… ein Leben nach dem Tod?«
Er nickte ernst. »Ja, das meinte ich.«
Sie
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