Haus des Blutes
beinahe das Herz stehen.
Shane!
Sie kletterte über die Leitplanke, kraxelte die kleine Anhöhe hinauf und stürzte zwischen die Baumreihen. Wie sehr der Alkohol ihre Reflexe verlangsamte, merkte sie erst, als sie gegen einen tief hängenden Ast rannte, obwohl sie ihn noch rechtzeitig gesehen hatte. Das Holz schlug gegen ihre Stirn und schmetterte sie auf den Waldboden, wo sie mit dem Hinterkopf gegen etwas Hartes, Unbiegsames knallte.
Sie verlor zwar nicht das Bewusstsein, aber einen Moment lang wurde ihr schwarz vor Augen, und sie konnte nur einen flüchtigen Blick auf die Kreatur werfen, die aus der Dunkelheit auftauchte und sich über ihr aufbaute. Sie spürte, dass es etwas Großes sein musste, etwas, das außerhalb ihres bisherigen Erfahrungsschatzes lag. Es schien sie einen Augenblick lang zu betrachten, so wie ein Gast in einem Restaurant das Steak auf dem Teller begutachtete, bevor er sich mit Messer und Gabel darüber hermachte. Als die merkwürdige Gestalt ihre herannahenden Freunde bemerkte, die Karens Namen riefen, riss sie den Kopf hoch.
Im nächsten Moment war das Wesen wieder verschwunden.
Karen blinzelte überrascht. Sie hatte noch nicht einmal genügend Zeit gehabt, sich richtig zu erschrecken, aber nun, oh Gott, schwappte eine Welle des Entsetzens mit der Macht eines Tsunamis über sie hinweg.
»Was zur Hölle war das denn?«, keuchte sie.
Irgendwo vor ihr hörte sie einige Zweige knacken und dann wurde ihr mit brutaler Wucht eine schreckliche Tatsache bewusst.
Shane musste diesem … Ding ebenfalls begegnet sein.
Und das bedeutete …
»SHANE!«
Sie wollte aufstehen, doch eine Hand legte sich auf ihre Schulter und drückte sie zu Boden.
Sie stieß einen Schrei aus.
Kapitel 5
Eddie bewegte sich in der unter diesen Umständen einzig vorstellbaren Art und Weise voran – mit dem äußersten Maß an Vorsicht, das er aufbringen konnte. Er befand sich in der Küche im Haus des Meisters. Sie sah noch mehr oder weniger genauso aus, wie er sie von seinem letzten Aufenthalt in Erinnerung hatte: eine große, gut ausgestattete Speisekammer und in der Mitte des Raums eine große Arbeitsinsel mit Schränken und einem Spülbecken. Dahinter ein Tisch; derselbe Tisch, an dem er die letzte normale Mahlzeit vor seiner Gefangenschaft Unten eingenommen hatte.
Er war vor etwa sechs Monaten hierhergekommen, ein verirrter, erschöpfter Reisender auf der Suche nach einem Telefon. Er befand sich damals auf der Rückfahrt von einer Geschäftsreise nach North Carolina, wo er geholfen hatte, ein neues Vertriebszentrum für die Firma aufzubauen, bei der er arbeitete. Plötzlich fing der Motor seines kaum ein Jahr alten Lexus an zu stottern. Eddie war verzweifelt vom Highway abgefahren, um mit seinem Handy den Pannendienst zu alarmieren. Dummerweise hatte sein Mobiltelefon – ein brandneues Modell von Motorola – ebenfalls spontan beschlossen, den Geist aufzugeben.
Eddie war eher der zurückhaltende Typ, ziemlich entspannt und nicht gerade für seine Temperamentsausbrüche bekannt. Er schrieb das geballte technische Versagen einer Laune des Schicksals zu und nahm sich vor, es beim nächsten Mitarbeitertreffen als lustige Anekdote auszuschlachten. Er stieg aus dem Wagen und ging fest davon aus, schon bald ein Plätzchen zu finden, an dem er die Nacht verbringen konnte. Am nächsten Morgen würde er vom Hotel aus eine Werkstatt anrufen. Nach dem Abschleppen bekam er dann sicher problemlos einen Mietwagen, um seine Fahrt fortzusetzen.
Allerdings entwickelten sich die Dinge ein wenig anders.
Er ging immer weiter und weiter, und es kam ihm wie eine mittlere Ewigkeit vor. Seit seiner Zeit als Mitglied der Leichtathletikmannschaft an der High School war er gut darin, Entfernungen abzuschätzen. Er legte eine Meile zurück. Zwei. Drei. Allmählich wurde er müde. Keuchend und schnaufend blieb er stehen und versuchte erneut sein Glück mit seinem Handy. Nichts. Er trottete weiter. Fünf Meilen, und noch immer kein Anzeichen von Zivilisation.
Okay, er befand sich auf einer kurvigen Asphaltstraße, die auf beiden Seiten von Leitplanken begrenzt wurde. Definitiv von Menschen gemacht. Aber er war nicht einem einzigen Straßenschild begegnet, nicht einer Reklametafel, rein gar nichts, was darauf hingewiesen hätte, dass er sich in einer bewohnten Gegend befand. Was er schlichtweg als absurd empfand. Kurz bevor der Lexus zu stottern begonnen hatte, war er durch Knoxville gefahren. Er hätte also irgendetwas sehen müssen.
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