Haus des Glücks
worden waren: Ein mächtiger Tropensturm, ein Zyklon, war damals über die Insel gefegt. Er hatte Bäume entwurzelt, Häuser niedergerissen, die Wellen zur Höhe von Bergen aufgetürmt. Die Ufer waren überflutet worden, und sowohl die amerikanische als auch die deutsche Kriegsflotte wurde in Mitleidenschaft gezogen. Auf beiden Seiten waren mehrere Schiffe gesunken, zwei amerikanische Kanonenboote liefen auf die Riffe vor Apia auf, und eine deutsche Fregatte trieb manövrierunfähig auf den Pazifischen Ozean hinaus. Samoanische Fischer hatten die völlig entkräftete Besatzung einige Wochen später gerettet und an Land gebracht.
So fürchtete die Bevölkerung auch diesmal um ihr Leben. Erst als drei Tage nach dem letzten Schuss vergangen waren, ohne dass ein Sturm aufgezogen war, die Erde gebebt hatte oder eine riesige Flutwelle über die Insel hinweggerollt war, wagte man allmählich aufzuatmen. Und als weitere drei Tage später immer noch die Waffen schwiegen, machte sich der Gouverneur mit einem Boot und zwei Vertretern der Bürger von Apia auf den Weg zu den in der Bucht vor Anker liegenden Kriegsschiffen, um mit den kommandierenden Generälen zu sprechen.
Als er zurückkehrte, war Victoria gerade damit beschäftigt, Binden zum Trocknen auf die Wäscheleine zu hängen.
Es war Klara, die ihr die Nachricht brachte. »Victoria hören Sie! Der Krieg ist vorbei!«, rief sie schon von weitem. »Sie verhandeln! Der Krieg ist vorbei!«
»Woher wissen Sie das?«
»Von Mechthild. Ihr Mann ist gerade von einer Unterredung an Bord eines deutschen Schiffes zurückgekommen, und er hat den General und einige Offiziere mitgebracht. Ist das nicht wunderbar?«
Die beiden Frauen umarmten sich.
Victoria zitterten die Knie. Es war kaum zu glauben, es kam ihr vor wie ein Traum. Der Krieg war vorüber. War es wirklich vorbei? Sie dachte an die Verletzten, an die vielen, denen sie nicht hatten helfen können und die sie auf dem kleinen Friedhof unter weißen Kreuzen – zum Teil namenlos – hatten begraben müssen. Sie dachte an das Grabkreuz, auf dem Johns Name stand. Er war eines der sinnlosen Opfer in diesem sinnlosen Krieg. Tagsüber war sie zu beschäftigt, um sich Gedanken darüber zu machen. Aber nachts, wenn sie versuchte wenigstens für ein paar Stunden zu schlafen, hörte sie die Schreie, sie sah die gebrochenen, toten Augen vor sich. Und wenn sie aufwachte, war ihr Gesicht nass vor Tränen.
Vorbei? Keine halb Ertrunkenen mehr, die das geschluckte Meerwasser vor ihren Füßen erbrachen. Keine Frauen, die von den Trümmern ihrer Häuser niedergeschlagen worden waren. Keine menschlichen Überreste mehr am Strand, die von den satten Haien übrig gelassen worden waren. Wirklich vorbei?
Und plötzlich brach alles auf einmal über sie herein: die Angst vor den Kanonen, die Trauer um John, die Sorge um ihre Kinder, die Verzweiflung der Verwundeten, ihre Müdigkeit. Sie begann, am ganzen Körper zu zittern, Tränen rollten über ihre Wangen. Sie schlug die Hände vor das Gesicht und weinte.
»Victoria, was ist mit Ihnen?«
Unfähig, etwas zu sagen, schüttelte sie den Kopf.
»Soll ich den Doktor holen, geht es Ihnen nicht gut?«
»Nein, nicht nötig«, brachte sie schließlich unter Schluchzen hervor. »Ich glaube, es sind nur die Nerven. Die Anstrengungen der vergangenen Monate, die Angst – und jetzt die Erleichterung! So unerwartet!« Sie wischte sich die Tränen mit dem Handrücken von der Wange und schneuzte sich. Versuchte sich zusammenzureißen, doch sie zitterte so heftig, dass ihre Zähne aufeinanderschlugen. Sie umklammerte ihre Knie mit beiden Händen.
Nimm dich zusammen, Victoria! Nimm dich zusammen! Denk an deine Kinder, an die Patienten. Du hast hier noch eine Aufgabe!
Das half. So wie an jedem Tag der endlosen Reihe von Tagen, die seit Johns Tod vergangen waren. Tage, an die sie sich kaum noch erinnern konnte. Das Zittern ließ fast augenblicklich nach. Sie erhob sich. »Kommen Sie, Klara. Der Krieg mag beendet sein, aber hier liegen noch Kranke und Verletzte, die unsere Hilfe brauchen. Wir müssen uns um sie kümmern.«
Klara nickte und nahm eine Schüssel mit Wasser, um Verbände zu wechseln. Victoria folgte ihr. Und während sie saubere Binden aus dem Schrank in der Praxis holte, kam ihr ein erschreckender Gedanke: Seit Johns Tod hatte sie keine Gefühle mehr zugelassen. Sie hatte geatmet, gegessen, geschlafen. Vor allem aber hatte sie ihre Pflicht im Lazarett erfüllt. Diese Aufgabe hatte sie auf
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