Haus des Glücks
»Deshalb will sie Paulas Brautkleid zerschneiden.«
»Oje, Paula ist so empfindlich!«
»Tun Sie, was Ihnen Ihr Gewissen vorschreibt«, entgegnete Victoria. Sie war müde. Und sie hatte es satt, sich wegen jeder Kleinigkeit rechtfertigen oder auf andere Rücksicht nehmen zu müssen. Konnten diese Weiber nicht begreifen, dass es wichtigere Dinge im Leben gab als persönliche Eitelkeiten? »Dann werde ich es eben allein tun.«
Klara sah von der einen zur anderen. »Eigentlich schade um den schönen Stoff«, lenkte sie ein und strich fast zärtlich über das Kleid. »Ich werde es auftrennen, Victoria. Ihre Zeit ist zu kostbar. Der Doktor braucht Sie bei den Patienten.«
»Ihr kommt offenbar auch ohne mich zurecht«, zischte Mechthild wütend. »Ich muss mich um meinen Mann und meine Kinder kümmern.« Damit rauschte sie mit hocherhobenem Kopf davon.
Victoria sah ihr kurz nach und dankte dem Herrgott, dass er nicht nur Mechthild, Alwine und Paula, sondern auch die sanftmütige Klara auf diese Insel geschickt hatte.
»Wo ist der Doktor?«
»In seinem Zimmer. Ich habe ihm gesagt, er soll sich wenigstens eine Stunde hinlegen. Er scheint wieder Kopfschmerzen zu haben.«
Victoria zweifelte nicht daran, dass Klara den Arzt schon lange durchschaut hatte. Sie war zwar nicht besonders gebildet, aber eine kluge Frau. Und eine gute Beobachterin.
»Er arbeitet zu viel.«
»Sie aber auch«, sagte Klara. »Sollten Sie nicht eigentlich bei Ihren Kindern sein? Wo sie doch ihren Vater …«
Victoria hob ihren Kopf. »Ich glaube nicht, dass Ihnen darüber ein Urteil zusteht«, erwiderte sie barsch. »Sehen Sie lieber zu, dass Sie sich um die Röcke kümmern. Wir brauchen die Verbände.«
»Wie Sie meinen.« Klara setzte sich an den kleinen Tisch, an dem sie für gewöhnlich auch ihre Mahlzeiten einnahmen, und nahm das Brautkleid auf den Schoß.
Victoria wandte sich ab und atmete tief durch. Natürlich hatte Klara nur freundlich sein wollen. Sie war eine arglose, mitfühlende Seele. Noch nie hatte Victoria sie negativ über jemanden reden hören. Doch was nützte es ihr, wenn sie sich auch noch von anderen ein schlechtes Gewissen einreden ließ? Sie selbst machte sich schon genug Vorwürfe, weil sie ihre Kinder vernachlässigte. »Es tut mir leid«, sagte sie und ließ sich neben Klara auf den Stuhl sinken. Plötzlich fühlte sie sich mindestens zehn Jahre älter. Sie kam sich vor, als hätte sie bereits seit Tagen nicht mehr geschlafen.
Wo war das »Haus des Glücks«, in dem sie eigentlich hatte wohnen wollen? Es ist zusammengestürzt,
dachte sie.
Und hat John dabei unter sich begraben.
»Ich war eben grob zu Ihnen.«
»Sie sind völlig erschöpft, mühen sich Tag und Nacht im Krankenhaus ab, obwohl Sie doch erst vor einigen Wochen Ihren Mann verloren haben und sich ständig Sorgen um Ihre Kinder machen«, sagte Klara, während sie eine Naht auftrennte. »Andere an Ihrer Stelle würden laut jammernd und wehklagend durch die Stadt schleichen und erwarten, dass man sie bedauert. Aber so eine sind Sie nicht, obwohl Sie bestimmt nicht weniger leiden. Eher im Gegenteil. Wenn Sie also gelegentlich ein bisschen forscher werden, kann ich das verstehen. Es ist nicht schlimm.«
»Doch. Natürlich ist es das«, sagte Victoria und rieb sich die Stirn. »Sie haben nämlich recht, und das will ich nicht hören. Ich sollte bei meinen Kindern sein wie die anderen Frauen, anstatt sie in der Obhut von Fremden zu lassen. Gerade jetzt. Aber …«
»Sie müssten den Doktor allein und die Verletzten damit ihrem Schicksal überlassen«, wandte Klara ein. »Und das können Sie nicht. Weil Sie ein guter Mensch sind.«
»Bin ich das? Nur weil ich keine andere Wahl habe?«
»Jeder hat die Wahl.« Sie nahm die Verbandsschere in die Hand. »Die meisten sind nur nicht bereit, die Verantwortung für ihre Entscheidungen zu übernehmen und lassen das Leben die Auswahl für sie treffen.« Sie schnitt beherzt einen breiten Streifen ab. Das Geräusch der durchtrennten Seide hätte wohl jeder Frau in den Ohren weh getan. Dann lehnte sie sich mit einem tiefen Seufzer zurück und betrachtete ihr Werk. »Sehen Sie nur, Victoria, das schöne Brautkleid. Jetzt ist es unwiederbringlich dahin.«
Von einem Tag zum anderen wurde der Beschuss von Apia eingestellt. Doch niemand wagte an ein Ende des Konflikts zu glauben. Zu frisch war noch die Erinnerung an den Krieg zehn Jahre zuvor, als die Kanonen lediglich von den Naturgewalten zum Verstummen gebracht
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