Haus des Glücks
eher Auskunft geben können.«
»Herr Kollege?«
»Da sie noch nicht bei Bewusstsein ist, konnte ich sie bisher nicht ausführlich untersuchen.«
»Weichen Sie mir nicht aus! Sie haben doch Erfahrung mit solchen Fällen. Können Sie nicht wenigstens eine vorsichtige Prognose stellen?«
Ihr Vater klang ungeduldig, und obwohl er sich Mühe gab zu flüstern, konnte sie deutlich die Angst aus seiner Stimme heraushören. Er schien sich um jemanden Sorgen zu machen.
»Sie wissen selbst, wie das mit voreiligen Schlüssen ist.«
»Ja, ich weiß. Ich bin Arzt. Und deshalb brauchen Sie mich auch nicht zu schonen.«
»Also gut. Die Reflexe sind einwandfrei, so dass es bislang keinen Anhalt für eine schwerwiegende neurologische Störung gibt.«
»Und das bedeutet?«
»Dass wir Grund zu einem vorsichtigen Optimismus haben. So wie es bisher aussieht, hat Ihre Tochter lediglich eine Gehirnerschütterung erlitten.«
»Gott sei Dank!«
Tochter? Hoffentlich war Johanna nichts zugestoßen! Oder sprachen die drei Ärzte etwa über sie?
»Aber ich mahne zur Vorsicht, Herr Kollege. Kopfverletzungen sind unberechenbar. Ich habe Fälle erlebt, bei denen der Patient sofort nach dem Unfall ganz normal seinem Tagewerk nachgehen konnte und zwei Tage später wie vom Schlag getroffen umgefallen ist. Diese Geschichten endeten bestenfalls in der Invalidität, wir hatten aber auch schon Todesfälle zu beklagen.«
»Sie verstehen es, mir Mut zu machen, Herr Doktor Baumgarten!«
»Herr Doktor Bülau, ich kann Ihre Besorgnis und Ihre Ungeduld durchaus nachvollziehen. Aber was hätte es für einen Sinn, jetzt falsche Hoffnungen zu wecken? Das erste Kriterium für die Prognose sind die Reflexe. Und diese sind bisher normal. Der zweite Faktor wird die Dauer der Bewusstlosigkeit sein. Darüber können wir derzeit nur spekulieren. Und erst die abschließenden Untersuchungen des Erinnerungsvermögens und anderer kognitiver und neurologischer Funktionen werden uns Aufschluss über das Ausmaß der Verletzung und die Chancen einer vollständigen Heilung geben. Es tut mir leid, dass ich Ihnen zum jetzigen Zeitpunkt nicht mehr sagen kann. Sie wissen, wie sehr ich Sie und Ihre Frau schätze. Aber ich versichere Ihnen, in spätestens zwei Tagen wissen wir mehr – so oder so.«
Ihr Vater seufzte, es klang fast wie ein unterdrücktes Schluchzen.
Weinte er etwa um sie?
Gern hätte Victoria die Augen geöffnet, um ihm und den anderen zu beweisen, dass sie wach war und es keinen Grund mehr zur Sorge gab. Aber ihre Lider waren bleischwer. Und in ihrem Kopf pochte ein dumpfer Schmerz. Sie versuchte, sich zu bewegen, doch alles tat weh – ihre Arme, ihre Beine, ihr Rücken, ihr ganzer Körper. War sie doch unter die Räder des Fuhrwerks geraten und hatte sich alle Knochen gebrochen? Aber das konnte doch nicht sein, auch wenn es sich so anfühlte. Sie war doch noch auf eigenen Füßen in die Praxis ihres Vaters gegangen. Oder hatte sie das nur geträumt? Sie stöhnte auf und hörte im nächsten Moment das Rascheln gestärkten Leinens und Schritte, die sich näherten.
»Fräulein Bülau?« Leise sprach der Arzt zu ihr; der Stimme nach zu urteilen war es der Neurologe. »Sind Sie wach? Können Sie mich hören?«
Jemand beugte sich über sie. Der Geruch von medizinischem Alkohol stieg ihr in die Nase und verursachte ihr Übelkeit. Sie wollte nicken, wurde jedoch mit heftigen Kopfschmerzen bestraft, so dass sie stattdessen versuchte zu antworten. »Ja«, kam es krächzend aus ihrer Kehle. Kaum zu glauben, dass das ihre Stimme sein sollte, die durch ihren gemarterten Schädel wie eine verstimmte Kesselpauke dröhnte.
Ihr Lid wurde angehoben. Grelles Licht zuckte wie ein glühendes Eisen durch ihren Kopf, und wieder stöhnte sie vor Schmerz.
»Ist schon gut, Fräulein Bülau«, sagte der Neurologe freundlich. »Wir werden mit der Untersuchung noch ein wenig warten. Ruhen Sie sich aus, Sie sind bestimmt müde.«
Ja, in der Tat, das war sie – müde, so unglaublich müde!
Wieder raschelte Leinen. Dann griff jemand ihre Hand.
»Gott sei Dank, dass du wieder bei uns bist!«, flüsterte ihr Vater ihr ins Ohr. Dann spürte sie seine Lippen auf ihrer Stirn. Ganz vorsichtig, als wäre sie aus hauchdünnem, zerbrechlichem Glas. »Schlafe dich aus. Schwester Silke wird bei dir bleiben. Und morgen früh sehe ich wieder nach dir.«
Leise Schritte entfernten sich.
»Ich halte Sie auf dem Laufenden.«
»Danke, Herr Kollege.«
Eine Tür öffnete
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