Haus des Glücks
Gendarmen diesen Missstand melden. Das war ihre Christenpflicht. Doch zuerst musste sie nach oben, in den Himmel und die Dächer von Hamburg betrachten. Es knirschte und krachte, als ob ein Haus einstürzte. Ein riesiger Schatten tauchte vor ihr auf, etwas riss an ihrem Arm – gleich würde er abfallen, bestimmt – und dann flog sie endlich.
Victoria fand sich auf dem Gehsteig wieder, über ihr wölbte sich der graue Himmel. Fremde Gesichter starrten auf sie herab, eines davon näherte sich. Ein junges Gesicht mit haselnussbraunen Augen unter einem dunklen, struppigen Haarschopf. Der Jüngling trug keine Kopfbedeckung.
Warum nicht? Das gehörte sich doch nicht in der Öffentlichkeit!
Ein älterer Polizist schob ihn zur Seite und beugte sich über sie. Er hatte einen grauen Backenbart und buschige Augenbrauen. Deutlich erkannte sie das Hamburger Wappen auf der Pickelhaube – das Burgtor mit den beiden Türmen rechts und links.
»Können Sie mich hören, Fräulein?«, fragte er. Er schien besorgt zu sein. »Haben Sie Schmerzen?«
»Schmerzen?« Sie runzelte die Stirn. Seltsame Frage. »Nein.«
»Victoria!« Franziska war bleich und hatte Tränen in den Augen. »Wie …«
»Was ist überhaupt los?«, fragte Victoria überrascht, setzte sich auf und betrachtete fassungslos ihre Hände. Sie war über und über mit Schlamm bespritzt. »Warum bin ich so schmutzig? Und was ist mit meinem Kleid geschehen?«
»Sie hatten einen Unfall, Fräulein. Sie wären eben um ein Haar von einem Kohlefuhrwerk überfahren worden. Wenn der junge Herr nicht so geistesgegenwärtig gewesen wäre, hätte es böse enden können.«
Verständnislos schüttelte sie den Kopf.
Überfahren? Sie?
»Aber wie …«
Da fiel ihr Blick auf das Fuhrwerk, das nur wenige Meter von ihr entfernt mit einem Rad auf dem Bürgersteig stand. Kohle war auf der Straße verstreut. Ein paar Kinder sammelten die Brocken ein und warfen sie auf die Ladefläche.
Der Kutscher fuhr sich durch das graue Haar. »Das ist mir noch nie passiert«, wiederholte er die ganze Zeit, während ein anderer Schutzmann mit den umstehenden Leuten sprach. »Seit über zwanzig Jahren sitze ich auf dem Bock, aber das ist mir noch nie passiert. Mir ist noch nie jemand vor den Wagen gelaufen. Nicht einmal ein Huhn. Das ist mir wirklich noch nie passiert, in über zwanzig Jahren nicht!«
»Was ist? Hast du etwas herausfinden können?«, fragte der ältere Polizist seinen Kollegen, der gerade zu ihnen trat.
»Sie sagen alle das Gleiche«, antwortete er. »Sie stand einfach mitten auf der Straße. Den Kutscher trifft keine Schuld.«
Der Schutzmann tätschelte Victorias Hand. »Na, Fräuleinchen, Sie wollten doch nicht etwa eine Dummheit begehen?«
»Nein, wo denken Sie hin!«, mischte sich Franziska empört ein. »Sie ist mit dem Absatz zwischen dem Kopfsteinpflaster stecken geblieben.«
»So!« Er hob eine Augenbraue und strich sich über den Bart. Er schien der Freundin nicht ganz zu glauben. »Wir sollten die junge Dame vorsichtshalber in ein Krankenhaus bringen lassen.«
»Nein, das ist nicht nötig«, protestierte Victoria. »Mir geht es gut, wirklich, mir fehlt nichts. Außerdem ist mein Vater Arzt. Er hat eine Praxis am Holzdamm, hier gleich um die Ecke. Ich bin auf dem Weg zu ihm. Wenn Sie mir bitte aufhelfen würden?«
Der Schutzmann nahm ihren Arm und half ihr auf die Füße. »Sie sollten aber nicht allein unterwegs sein, Fräulein«, sagte er.
»Ich werde meine Freundin begleiten«, warf Franziska schnell ein, während sie Victoria half, ihr Kleid notdürftig vom Straßenschmutz zu befreien.
Er nickte ihr zustimmend zu. »Ich vertraue Ihnen, Fräulein!« Dann klatschte er in die Hände. »Das Schauspiel ist vorbei, Leute, die junge Dame ist gerettet, ihr könnt alle nach Hause gehen.«
»Bist du denn von allen guten Geistern verlassen?«, sagte Franziska, als die beiden Polizisten außer Hörweite waren. »Du kannst doch nicht mitten auf der Straße stehen bleiben! Was ist nur in dich gefahren?«
Victoria sammelte ihre verstreuten Bücher ein und zuckte mit den Schultern.
»Du hast mich zu Tode erschreckt! Wenn dieser junge Mann dich nicht im letzten Moment gepackt und von der Straße gezogen hätte, wärest du unter die Räder gekommen.«
»Wo ist er denn hin?«, fragte Victoria. »Ich habe mich noch nicht bei ihm bedankt.«
Franziska blickte sich kurz um. »Er scheint sich aus dem Staub gemacht zu haben. Möglicherweise hatte er es eilig.« Sie
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