Haus des Glücks
schüttelte sich und wiederholte die Prozedur ein zweites Mal.
Leichte Kost?
In ihren Augen grenzte dieses »Essen« an körperliche Misshandlung. Sollte sie jemals das Krankenhaus verlassen dürfen, so würde sie nie wieder Haferbrei essen oder Pfefferminztee trinken, das schwor sie sich.
»Bringen Sie das bitte weg, Schwester«, sagte sie und schob das Tablett angewidert von sich.
»Sie sind doch nicht etwa schon satt, Fräulein Bülau?«
»Nein. Verstehen Sie mich nicht falsch, aber das hier bekomme ich beim besten Willen nicht hinunter. Ich möchte mich hinlegen. Bitte.«
»Aber natürlich, gern!« Mit einem Lächeln ließ Schwester Josephine ihre Arbeit liegen, eilte zu Victoria, schüttelte nochmals die Kissen auf und half ihr, sich vorsichtig und langsam hinzulegen. Schwester Josephine war wirklich immer gut gelaunt und hilfsbereit. Und nicht nur zu ihr. Selbst wenn die Oberschwester sie ausschimpfte, war sie nicht anders. Ob es einen besonderen Grund dafür gab? Oder war es einfach ihre Natur?
»Wie kommt es eigentlich, dass Sie stets so fröhlich sind, Schwester?«, fragte sie schließlich, während die Krankenschwester den Nachtschrank abwischte.
»Wie bitte? Sie müssen etwas lauter sprechen, Fräulein Bülau!«
»Warum sind Sie immer so gut gelaunt?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht. Vielleicht, weil ich gerne hier arbeite. Ich bin gern Krankenschwester.«
»Wieso?«
Schwester Josephine lachte. »Es macht mir Freude, zu helfen. Ich weiß, dass ich nicht die Geschickteste bin und auch nicht immer alles richtig mache. Aber die Patienten brauchen mich. Das spüre ich. Wenn ich das Essen bringe oder die Kissen aufschüttele und einem alten Mann, der vor Schmerzen kaum noch atmen kann und im Sterben liegt, ein Lächeln entlocke, ist das doch viel, oder?«
Victoria sah sie nachdenklich an. »Wie sind Sie Krankenschwester geworden?«
»Das kommt mir noch heute wie ein Wunder vor.« Schwester Josephine faltete den Putzlappen sorgfältig zusammen, legte ihn zur Seite und verschränkte die Hände. Ihre Augen schimmerten auf einmal feucht. »Damals, nach dem Unfall, war nicht klar, was aus mir werden sollte. Wer will schon ein halb taubes, hinkendes Dienstmädchen anstellen oder ein solches Mädchen gar heiraten. Selbst meine Eltern hätten mich auf dem Hof kaum gebrauchen können. Außerdem sind wir daheim nicht gerade wohlhabend. Eine richtige Ausbildung konnte Vater also nicht bezahlen. Dann hatte unser Pastor den Gedanken, mich in der Krankenhauswäscherei unterzubringen. Anfangs habe ich dort die Laken zusammengefaltet und andere Hilfsarbeiten übernommen. Irgendwann bin ich auf eine Station gegangen, um die Wäsche abzuholen. Da war gerade nach einem Unfall auf einer Baustelle viel zu tun. Sieben schwerverletzte Arbeiter. Einem von ihnen konnten die Ärzte nicht mehr helfen. Er hatte furchtbare Angst, und da bat mich der Doktor, bei diesem Mann zu bleiben. Ich setzte mich neben sein Bett und hielt seine Hand, bis er starb. Der Doktor sagte, ich hätte das sehr gut gemacht. Von da an wurde ich oft geholt, wenn ein Schwerkranker Gesellschaft brauchte. Und irgendwann schlug eine der Oberschwestern vor, mich zur Krankenschwester auszubilden – kostenlos. Wissen Sie, manchmal kann ich gar nicht fassen, wie gut der Herrgott es mit mir gemeint hat.« Einen Augenblick herrschte Stille im Krankenzimmer. »Verzeihen Sie, dass ich Sie mit meinen Geschichten langweile, Fräulein Bülau«, sagte sie schließlich und nahm den Eimer und den Lappen wieder in die Hand. »Ich lasse Sie jetzt allein. Doktor Baumgarten sagte, Sie brauchen noch Ruhe, außerdem kommt die Visite bestimmt bald. Das Tablett hole ich gleich.«
Sie schloss behutsam die Tür hinter sich.
Victoria war wieder allein. Jetzt war ihr zum Heulen zumute.
Doch ihr blieb nicht viel Zeit, über Schwester Josephine nachzudenken, denn kurz darauf öffnete sich abermals die Tür. Doktor Baumgarten trat ein, mit seinen beiden Medizinalassistenten und Oberschwester Brigitte im Schlepptau.
Visite.
Doktor Baumgarten sah aus wie ein gütiger Großvater mit der Nickelbrille im runden, freundlichen Gesicht, dem weißen Haarkranz und dem ordentlich gestutzten Vollbart. Er blieb am Fußende ihres Bettes stehen und hörte aufmerksam zu, was die Oberschwester ihm mit leiser Stimme über Victoria erzählte: wie viel sie gegessen und getrunken hatte, ob sie aufgestanden war wie lange sie im Bett gesessen hatte, dass die Nacht ruhig gewesen war
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