Haus des Glücks
sich.
»Schwester, Sie wissen Bescheid. Fräulein Bülau braucht absolute Ruhe. Keinen Lärm, kein Licht und um Himmels willen keinen Besuch. Lediglich Herr Doktor Bülau darf zu ihr.«
»Sehr wohl, Herr Doktor Baumgarten. Darf sie etwas essen oder trinken?«
»Wenn sie möchte. Aber nur leichte Kost. Obgleich ich annehme, dass sie in der nächsten Zeit kaum Hunger haben wird.«
»Natürlich, Herr Doktor Baumgarten.«
»Und wenn Ihnen irgendetwas seltsam vorkommt, rufen Sie sofort den diensthabenden Arzt. Lieber einmal mehr, als einmal zu wenig.«
»Selbstverständlich, Herr Doktor Baumgarten.«
Die Tür wurde leise ins Schloss gezogen, ein Stuhl behutsam näher gestellt.
»Haben Sie keine Angst, Fräulein Bülau, Sie sind nicht allein. Ich werde bei Ihnen bleiben«, flüsterte eine freundliche Stimme. »Wenn Sie etwas haben möchten, sagen Sie mir Bescheid.«
»Ja.« Ihre Stimme war nur ein Hauch.
Aber was sollte sie auch schon brauchen? Alles, wonach es sie verlangte, war Schlaf. Viel Schlaf.
Victoria lag allein in dem kleinen Krankenzimmer und starrte an die weißgetünchte Decke. Sie kam sich vor wie in einem Zuchthaus. Das Metallbett war kaum breiter als eine Pritsche, die Matratze war hart, und die gestärkten Laken kratzten auf ihrer Haut. Besuche waren streng verboten, lesen, schreiben oder zeichnen durfte sie laut Anweisung von Doktor Baumgarten auch nicht. Alle Versuche, diese Verbote zu umgehen und wenigstens eine Zeitschrift in die Finger zu bekommen, scheiterten an den wachsamen Schwestern. Sie sprachen mit ihr wie mit einem dreijährigen Kind: »Nein, nein, nein. Das Lesen lassen wir hübsch bleiben. Wir wollen uns doch nicht wieder übergeben, nicht wahr?«
Dumme Gänse.
Fest stand, dass man sie hier, mit dem Wissen ihrer Eltern, seit mehr als einer Woche wie eine Gefangene hielt und sie ungeniert mit Langeweile folterte. Im Grunde fehlten nur noch die Gitterstäbe.
Missmutig blickte sie zum Fenster hinüber, das sich mit zunehmender Deutlichkeit durch die zugezogenen Vorhänge abzeichnete. Da draußen ging allmählich die Sonne auf. Würde es Regen geben wie in den letzten Tagen? Dann konnte sie wenigstens zuhören, wie die Regentropfen gegen die Fensterscheibe schlugen. Es war der einzige Zeitvertreib, den sie hatte, neben Schlafen und Essen – sofern man sich lange mit Haferbrei, wässrigen Suppen und trockenem Brot aufhalten wollte. Gefängniskost eben. Wenn sie nicht dem Regen lauschen konnte, lag sie in ihrem Bett, starrte abwechselnd an die weißgetünchte Wand oder die Decke oder zum Fenster hinter den Vorhängen und dachte nach. Warum hatte Franziska ihren gemeinsamen Traum verraten und wollte heiraten? Waren Ehe, Kinder und Haushalt dieses Opfer wert? Und was sollte aus ihr werden? Sollte sie weiterkämpfen? Mit welchem Sinn und welchem Ziel? Die Hoffnung, in Leipzig zu studieren, konnte sie nach der gescheiterten Petition begraben. Das Studium in der Schweiz war zu teuer. Ja, wenn Franziska mit ihr zusammen nach Zürich gegangen wäre, hätten sie sich viele Kosten teilen können. Aber Fräulein Johannsen wollte nicht mehr studieren. Sie wollte lieber heiraten, Kinder kriegen, Teegesellschaften geben. Warum? Ihre Gedanken drehten sich im Kreis, bis ihr schwindelig wurde, was meist zu Übelkeit führte, oder bis sie einschlief. Sie schlief viel während dieser unendlich langen Tage. So viel, dass sich auch die Nächte dehnten und ihr viel Zeit zum Grübeln ließen.
Das Klappern von Geschirr und gedämpfte Stimmen drangen zu ihr. Auf dem Krankenhausflur vor der Tür ihres Zimmers nahmen die Schwestern der Tagschicht ihre Arbeit auf, zur gleichen Zeit schlug die Uhr der Dreifaltigkeitskirche sechsmal. Endlich Morgen. Doch was löste die lange, quälend langweilige Nacht ab? Nichts als ein weiterer langer, quälend langweiliger Tag.
Es klopfte an der Tür. Die Morgenroutine begann, eine andere Form der Folter, die immerhin Abwechslung brachte.
»Guten Morgen, Fräulein Bülau!« Die Stimme der Krankenschwester dröhnte schmerzhaft in ihrem Kopf. Schwester Josephine sprach stets laut, da sie ein bisschen schwerhörig war. Sie schob Victoria eine Bettpfanne unter, ging zum Fenster und zog den Vorhang zur Seite.
Victoria stöhnte auf, zog sich die Decke bis zum Kinn und schloss die Augen. Kalte Luft strömte durch das geöffnete Fenster herein. Sie fror erbärmlich unter den dünnen Laken, und das fahle Morgenlicht löste immer noch unangenehme Kopfschmerzen bei ihr aus. Obwohl
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