Haus des Glücks
es längst nicht mehr so schlimm war wie in den ersten drei Tagen nach ihrem Unfall, als allein der Anblick der weißgetünchten Wände in der Nacht ausgereicht hatte, um derartige Kopfschmerzen zu verursachen, dass sie erbrechen musste.
»Verzeihung, Fräulein Bülau, aber Schwester Brigitte sagte, dass ich lüften solle.«
»Sie können das Fenster doch auch bei geschlossenen Vorhängen öffnen!«
»Ja, natürlich, da haben Sie recht, Fräulein Bülau. Daran habe ich gar nicht gedacht.«
Die Krankenschwester zog rasch die Gardinen zu. Gleichzeitig bekam Victoria ein schlechtes Gewissen. Schwester Josephine war zu jeder Zeit liebenswürdig, höflich und zuvorkommend. Sie war die freundlichste aller Schwestern auf der Station, die nichts anderes tat, als den Anweisungen der Ärzte zu folgen. Sie hatte kein Recht, sie so unwirsch zurechtzuweisen.
Die Schwester entfernte die Bettpfanne, half ihr, sich im Bett aufzusetzen und verschwand, um der Oberschwester den »Erfolg« zu melden.
Victoria konnte kaum leugnen, dass es ihr von Tag zu Tag besserging. Die blauen Flecken und Prellungen, die über ihren ganzen Körper verteilt waren, nahmen allmählich eine gelbliche Färbung an, und sie musste sich nicht mehr bei jeder Bewegung übergeben – wenn sie nur vorsichtig war und ihre Position nicht zu schnell änderte.
Hurra, es ging voran.
Aber wirklich freuen konnte sie sich über diese Fortschritte nicht. Was hatte sie denn schon davon? Die ersten drei Tage und Nächte waren wenigstens in einem Dämmerzustand an ihr vorübergezogen.
Die Tür öffnete sich. Diesmal kam Schwester Josephine mit dem Frühstück zurück, und Victoria fragte sich wie jeden Morgen, wozu man für dieses armselige Essen ein solch großes Tablett brauchte.
»Was gibt es denn heute?«, erkundigte sie sich, allerdings ohne jede Hoffnung.
»Haferbrei mit Pfefferminztee«, antwortete Schwester Josephine und strahlte, als wären das die erlesensten Speisen, die man in Hamburg bekommen konnte. Etwas umständlich stellte sie das Frühstückstablett auf dem Nachttisch ab.
»Warum denn das schon wieder?« Mürrisch schob Victoria das Tablett zurück. »Ich will das nicht essen.«
»Aber Fräulein Bülau!«, rief die Krankenschwester bestürzt aus. »Doktor Baumgarten hat Ihnen leichte Kost verordnet. Ich darf Ihnen nichts anderes bringen.«
»Schon gut«, murmelte Victoria, zog das Tablett wieder näher zu sich heran und nahm den Löffel in die Hand. »Sie können schließlich nichts dafür.«
»Wie bitte? Sie müssen etwas …«
»Ich habe nur einen Scherz gemacht«, sagte sie laut und versuchte zu lächeln. Dabei war ihr eher danach zumute, das Geschirr samt Inhalt an die Wand zu werfen und genussvoll zuzusehen, wie der braungraue Haferbrei langsam und klebrig an der Wand herunterrann.
Schwester Josephine setzte sichtlich erleichtert ihre Arbeit fort, zog Laken straff und schüttelte ein zweites Kissen auf. Victoria beobachtete sie dabei. Die Krankenschwester tat ihr leid. Sie war nur wenige Jahre älter als sie und nicht besonders hübsch. Unter der weißen Haube schauten dünne, helle Haare hervor, ihre Haut war fast weiß, und die wimpernlosen, hervorquellenden Augen erinnerten an Regenwasser. Außerdem zog sie das linke Bein nach. Sie war nicht sonderlich klug, oder wenigstens schien es so, was natürlich auch an ihrer Schwerhörigkeit liegen konnte. Schwester Brigitte, die Oberschwester, ließ sie nur wenige Tätigkeiten selbständig ausführen, obwohl sie bereits seit drei Jahren in der Krankenpflege arbeitete. In den vergangenen Tagen war Victoria des Öfteren Zeugin geworden, wie Schwester Josephine ausgeschimpft wurde, weil sie etwas vergessen oder falsch gemacht hatte. Trotzdem war sie die fröhlichste aller Schwestern auf der Station, und wenn sie lächelte, ging die Sonne auf. Die junge Frau hatte es nicht verdient, auch noch unter ihren Launen leiden zu müssen.
Victoria nahm den Löffel in die Hand und tauchte ihn in die graubraune Masse auf ihrem Teller. Hunger hatte sie schon – wenigstens ein bisschen, auch Appetit. Aber nicht auf Haferbrei und Pfefferminztee. Sie sehnte sich nach den duftenden Brötchen, die es bei ihnen zu Hause zum Frühstück gab, Mutters leckerem Apfelgelee und dem starken indischen Tee, den sie morgens so gern trank. Der Brei schien sich in ihrem Mund in einen klebrigen Klumpen zu verwandeln. Sie nippte an dem Tee. Er war widerlich, aber anders bekam sie den Kloß nicht hinunter. Sie schluckte,
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