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Haus des Glücks

Haus des Glücks

Titel: Haus des Glücks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yvonne Winkler
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passiert, Victoria?«, fragte er und legte ihr beide Hände auf den Kopf. Mit geübten Griffen begann er, sie zu untersuchen. »Also? Ich höre.«
    »Ich bin fast von einem Kohlewagen überfahren worden. Ein Mann hat mich gerade noch rechtzeitig von der Straße gezogen.«
    »Schau auf meinen Finger.« Er hielt ihr seinen Zeigefinger vor das Gesicht und bewegte ihn nach rechts, nach links, nach oben und nach unten. »Wie ist es dazu gekommen? War der Kutscher betrunken?«
    »Nein«, sagte sie und folgte mit ihrem Blick gehorsam der Bewegung. »Der Mann kann nichts dafür. Ich bin mit meinem Schuh im Kopfsteinpflaster stecken geblieben.« Sie war entschlossen, Franziskas Version beizubehalten. Wenigstens vorerst. »Ein junger Mann hat mich gerade noch rechtzeitig von der Straße gezogen. Sonst hätte ich unter den Rädern gelegen.«
    »Warst du ohnmächtig?« Er legte beide Hände wieder auf ihren Kopf und drehte ihn langsam nach rechts und links.
    »Nein.«
Wenigstens kann ich mich nicht daran erinnern.
Das behielt sie aber für sich.
    »Tut dir etwas weh?«
    »Nein.«
    »Beine? Arme?«
    »Nein.«
    »Steh auf.«
    Er klopfte ihre Wirbelsäule und ihren Brustkorb ab. »Geh jetzt ein paar Schritte geradeaus, Victoria.«
    Sie ging bis zum Schreibtisch. Auf der Schreibunterlage lag ein Brief mit dem Siegel der Universität Leipzig.
Die Petition! Ob es das Antwortschreiben war?
Ihr Herz begann schneller zu klopfen.
    »Und jetzt komm wieder zurück.«
    Sie befolgte seine Anweisung.
    »Auf den ersten Blick scheint alles in Ordnung zu sein.« Er nickte Schwester Gudrun erleichtert zu.
    »Das habe ich Ihnen doch gleich gesagt, Vater«, sagte Victoria. »Es ist nichts passiert. Ich bin wohlauf.«
    »Dennoch möchte ich morgen einen chirurgischen Kollegen hinzuziehen. Und einen Neurologen.«
    »Ist das nötig, Vater? Ich bin doch nicht verrückt!«
    »Ich will nichts übersehen. Kopfverletzungen sind zuweilen tückisch.« Er trat an das kleine Becken hinter der Tür des Behandlungszimmers und wusch sich die Hände. »Wie heißt denn der junge Mann?«
    »Welcher Mann?«
    Ihr Vater warf ihr einen besorgten Blick zu. »Du sagtest doch, dass dich ein junger Mann vor den Rädern des Fuhrwerks gerettet hat.«
    »Ach der. Ich weiß es nicht. Er ist gleich danach verschwunden.«
    »Dann werden wir eine Anzeige in der morgigen Zeitung aufgeben. Vielleicht meldet er sich, damit wir uns bei ihm bedanken können. Schließlich hat er dir das Leben gerettet. Warte hier einen Augenblick, ich ziehe mich rasch um, bevor wir nach Hause gehen.«
    Er verließ das Behandlungszimmer, während Schwester Gudrun die Instrumente zusammenräumte und die Laken und Leinentücher in den Weidenkorb einer Wäscherei legte. Unauffällig näherte sich Victoria dem Schreibtisch, um einen Blick auf den Brief aus Leipzig zu werfen.
     
    »Sehr geehrter Herr Kollege!
    Wir danken Ihnen vielmals für Ihr Bemühen um unser Anliegen, auch Frauen an der Universität Leipzig ein anerkanntes Studium zu ermöglichen. Leider müssen wir Ihnen heute mitteilen, daß unsere Petition keinen Erfolg hatte. Der Wissenschaftliche Rat der Universität sowie der sächsische Landtag sehen es nicht als erwiesen an, daß Frauen zu einem Studium in der Lage sind. Um die Qualität des Unterrichts nicht zu gefährden und keine Unruhen in der Bevölkerung heraufzubeschwören, werden Frauen bis auf weiteres nicht zum Studium zugelassen. Wir bedauern diese Entscheidung, müssen uns ihr jedoch beugen. Es ist ungewiß, wann wir einen erneuten Vorstoß wagen können, deshalb bitten wir Sie …«
     
    Die Schrift löste sich auf, stattdessen tanzten schwarze Punkte vor Victorias Augen. Schweiß trat ihr auf die Stirn. Sie bekam keine Luft mehr, und ihr war speiübel. Der Raum begann sich um sie zu drehen, immer schneller und schneller. Sie musste sich festhalten, doch ihre Hände fühlten sich an, als gehörten sie nicht mehr zu ihr. Der Schreibtisch entglitt ihrem Griff, und sie stürzte rücklings in den wirbelnden Strudel miteinander verschmelzender Farben und Konturen. Jetzt gab es keine Rettung mehr. Sie fiel und fiel, bis nichts als Schwärze zurückblieb.
     
    Gedämpfte Stimmen drangen an Victorias Ohr.
    »Wie sieht es aus, Herr Kollege?«
    Sie erkannte die besorgte Stimme ihres Vaters.
    »Sie hat Prellungen und Hämatome am ganzen Körper, aber zum Glück nichts Ernsteres. Aus chirurgischer Sicht. Zur Kopfverletzung kann ich allerdings wenig sagen. Da wird Ihnen der Kollege Baumgarten

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