Haus des Glücks
tätschelte ihre Hand. »Mach dir deswegen keine Sorgen, das kannst du bestimmt nachholen. Ich bringe dich jetzt erst einmal zu deinem Vater. Komm mit.«
Trotz ihrer Proteste führte Franziska sie am Arm wie eine Invalidin. Dabei wünschte sie sich nichts sehnlicher, als allein in ihrem Zimmer auf ihrem Bett zu liegen und über die neue Lage nachzudenken. Franziskas Heiratspläne kamen einem Verrat gleich, und die Nähe der Freundin war für sie kaum mehr zu ertragen. Wenn sie wenigstens den Mund gehalten hätte! Ständig erkundigte sie sich nach ihrem Befinden, ob sie noch weitergehen könne oder ob sie sich nicht setzen wolle. Sie war weder ein Kind noch blöd! Am liebsten hätte sie die Franziska einfach nach Hause geschickt. Für immer. Doch um ihrer jahrelangen Freundschaft willen biss sie die Zähne zusammen und schwieg. Sie war erleichtert, als sie endlich die Praxis ihres Vaters erreichten.
»Danke«, sagte Victoria und versuchte, sich aus Franziskas Griff zu befreien. Sie hörte selbst, wie schroff ihre Stimme klang. »Den Rest schaffe ich auch allein.«
Aber die Freundin achtete nicht auf ihren Einwand. Sie hielt sie nur noch fester und ließ es sich nicht nehmen, eigenhändig die Messingglocke zu läuten. Dreimal, als handele es sich um einen Notfall! Victoria ging diese übertriebene Fürsorge auf die Nerven.
Ja, sie hatte einen Unfall gehabt. Beinahe. Aber sie war nicht verletzt. Sie war wohlauf. Sie wollte nur endlich ihre Ruhe haben!
Schwester Gudrun öffnete die Tür, eine hochgewachsene, streng dreinblickende Frau in blau-weiß gestreifter Schwesterntracht mit weißer Schürze und gestärkter Haube, unter der ihre grauen Haare fast verschwanden. »Der Herr Doktor empfängt heute keine Patienten mehr. Die Praxis ist bereits geschlossen«, sagte sie bestimmt. Dann fiel ihr Blick auf Victoria, und sie wurde bleich. »Um Himmels willen, Fräulein Bülau! Was ist passiert?«
Während Franziska in wenigen Worten von dem Unfall erzählte, riss die Krankenschwester die Tür weit auf, packte Victoria und führte sie in das große, geräumige Wartezimmer. Dort schob sie einen Stuhl mit hoher Lehne und Rädern zurecht und drückte sie mit sanfter Gewalt hinein.
»Wir bleiben jetzt schön hier sitzen«, sagte sie streng. »Passen Sie auf sie auf, Fräulein. Ich hole den Herrn Doktor.«
»Ist das wirklich nötig, Schwester Gudrun?«
»Das wird der Doktor entscheiden.« Mit energischen Schritten ging sie zum Behandlungszimmer.
Resigniert lehnte sich Victoria zurück. Auf der Veranda, von der aus die wartenden Patienten den mit Rosen und Rhododendren bewachsenen Garten sehen konnten, saß niemand. Am Garderobenständer hing ein einzelner schwarzer Hut, ein Schirm stand im Schirmständer. Offenbar hatte Vater gerade den letzten Patienten in Behandlung. Die Standuhr in der Empfangshalle schlug einmal. Es war Viertel nach fünf.
Kurze Zeit später kam ein Mann in das Wartezimmer. Er grüßte und warf ihr dabei einen neugierigen, abschätzenden Blick zu, nahm seinen Hut und den Schirm und ging. Eilige Schritte näherten sich, und dann beugte sich auch schon ihr Vater über sie. In seinem gestärkten weißen Kittel mit den Messingknöpfen war er eine ehrfurchtgebietende Erscheinung.
»Victoria! Was muss ich da hören? Was ist passiert?«
»Ach, nichts weiter. Mich hätte beinahe ein Fuhrwerk angefahren«, sagte sie mit einem Lächeln.
Doch das Gesicht ihres Vaters blieb ernst. »Bringen Sie sie in das Behandlungszimmer, Schwester Gudrun.«
»Aber das ist doch nicht nötig. Es ist nichts passiert, mir geht es gut.«
»Das entscheide ich, Victoria. Ich bin schließlich nicht allein dein Vater, sondern auch der Arzt. Fräulein Johannsen, ich danke Ihnen vielmals, dass Sie so umsichtig waren, meine Tochter zu mir zu bringen. Aber jetzt können Sie nichts mehr tun.«
Schwester Gudrun schob den Rollstuhl zum Behandlungszimmer.
»Ich würde gerne warten«, hörte sie Franziska in ihrem Rücken sagen. Ihre Stimme klang unsicher.
»Das ist nicht nötig, Fräulein Johannsen. Ihre Eltern erwarten Sie gewiss bereits zu Hause. Sie dürfen gern morgen zu uns kommen und sich nach Victoria erkundigen.«
Sie hörte die Stimmen der beiden noch eine Weile, dann fiel die Tür hinter Franziska ins Schloss, und ihr Vater kam in das Behandlungszimmer. Schwester Gudrun breitete in der Zwischenzeit ein sauberes Leinentuch über einen kleinen Tisch aus und verteilte verschiedene medizinische Instrumente darauf.
»Was ist
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