Haus des Glücks
wünschte sie sich manchmal, diese Hand würde sie halten und nicht das Skalpell.
Ungehörige Gedanken.
Doktor Kümmell hatte eine Frau und zwei Kinder, und sie hatte sich entschieden, Nonne zu werden.
»Haken.«
Sie reichte ihm das gewünschte Instrument und wischte das Blut, das ihm die Sicht nahm, vom Operationsgebiet. Doktor Kümmell setzte den Haken ein und gab ihn an den Medizinalassistenten weiter. Der junge Mann – bartlos und mit solch glatter Haut, als hätte er gerade erst die Schule beendet – war zum ersten Mal bei einer Operation dabei. Seine Augen waren groß und rund, als könnte er sich noch nicht zwischen Neugierde und Entsetzen entscheiden. Seine Hände zitterten, als er den zweiten Haken übernahm.
»Kräftiger! Sie müssen die Bauchdecke auseinanderziehen, wenn ich hier die Übersicht behalten soll. So ist es schon besser.«
Das Gesicht des Medizinalassistenten verlor zusehends an Farbe. Victoria warf ihm einen besorgten Blick zu. Hoffentlich hielt er durch. Eine plötzliche Ohnmacht konnte die ganze Operation gefährden.
»Hier.« Doktor Kümmell hielt mit einer Pinzette ein rotes, fingerlanges Stück Darm ins Licht. »Sehen Sie den Appendix? Er ist hochgradig entzündet. Wir setzen ihn an dieser Stelle ab und verschließen den Blinddarm mit einer Tabaksbeutelnaht. Damit habe ich bisher die beste Erfahrung gemacht.«
Die Schere erfüllte ihre Aufgabe, und er legte das abgeschnittene Stück in eine Schale, die ihm Victoria reichte, ohne dass er darum hatte bitten müssen. Mittlerweile kannte sie die Vorgehensweise bei dieser Operation. Jeder einzelne Schritt war ihr vertraut, und sie wusste genau, wie Doktor Kümmell auf Komplikationen reagierte – welche Instrumente er zum Stillen von Blutungen brauchte, welche Nadel- und Fadenstärke er bevorzugte oder wann eine zusätzliche Hand zur Unterstützung erforderlich war.
Sie reichte ihm die Nadel, und kurze Zeit später wurde ein Haken nach dem anderen wieder entfernt, bis auch der Bauchdeckenschnitt genäht werden konnte.
Als er fertig war, trat er vom Operationstisch zurück und wusch sich die Hände, während ein Pfleger den Patienten hinausfuhr.
»Was halten Sie von unserem jungen Kollegen, Victoria?«, fragte er, und die blauen Augen hinter den Brillengläsern funkelten. »Hat er seine Sache gut gemacht oder nicht?«
»Also ich finde, er hat es gut gemacht«, antwortete sie und lächelte. Anfangs hatten sie Doktor Kümmells unkonventionelle, lockere Umgangsformen irritiert, mittlerweile wusste sie den Scherzen des Arztes jedoch selbstbewusst zu begegnen.
»Hören Sie, Herr Bauer, wenn unsere Victoria das sagt, können Sie sich etwas darauf einbilden. Sie ist die beste OP -Schwester, die wir haben.« Er klopfte dem jungen Medizinalassistenten auf die Schulter. »Danke, Victoria, es war mir wie immer eine Freude und eine Ehre.« Er zwirbelte seinen Schnurrbart, schlug zackig die Hacken zusammen und verbeugte sich.
»Die Freude ist ganz meinerseits«, antwortete sie mit einem angedeuteten Hofknicks. Beide mussten lachen, und in das bleiche Gesicht des Medizinalassistenten kehrte ein Hauch Farbe zurück.
»Kommen Sie, Herr Bauer. Bis zur Visite haben wir noch genug Zeit, Ihre Fragen zu klären.« Gemeinsam mit seinem jungen Kollegen verließ Doktor Kümmell den Operationssaal, und Victoria blieb mit dem Pfleger allein zurück und begann mit dem Aufräumen.
»Sie haben mit dem Herrn Doktor gelacht und gescherzt.«
Schwester Alberta sah streng auf Victoria herab. Ihre blassblauen Augen wirkten noch kälter als sonst, ihr Mund mit den blutleeren Lippen war kaum mehr als ein dünner Strich.
Victoria wollte aufbegehren und dieser misslaunigen, unfreundlichen Frau endlich die Meinung sagen. Mit den meisten Nonnen kam sie recht gut zurecht, es waren freundliche, einfache Frauen, die genügsam ihren Dienst verrichteten. Schwester Alberta bildete die unrühmliche Ausnahme. Sie war eine intelligente Frau und geschickte Krankenschwester; die Ärzte hielten große Stücke auf sie, aber sie war unbarmherzig, kalt und gefürchtet. Mit ihrer scharfen Zunge konnte man
»Fleisch in dünne Scheiben schneiden«,
wie die korpulente Ordensschwester aus der Krankenhausküche zu sagen pflegte. Ausgerechnet mit dieser Nonne musste Victoria oft zusammenarbeiten. Lange Zeit hatte sie Albertas Härte erduldet. Doch seit Doktor Kümmell sie zur Assistenz in den OP gebeten hatte, fiel es ihr zunehmend schwerer. Natürlich stand es ihr frei, sich
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