Haus des Glücks
und die ganze Angelegenheit zu vergessen. Vorausgesetzt, dass Sie sich von mir nach Hause begleiten lassen.«
»So viel Frechheit macht mich sprachlos.« Sein strahlendes Lächeln und das vergnügte Zwinkern seiner Augen trieb ihr die Zornesröte in die Wangen. »Wenn Sie mir nicht auf der Stelle meine Bücher zurückgeben, sehe ich mich gezwungen, einen Polizisten zu rufen.«
»Glauben Sie, dass das klug wäre? Wer weiß, was der brave Mann neben den Büchern noch in Ihren Taschen findet. Schließlich haben Sie mich angerempelt.«
Victoria schnappte nach Luft. »Wollen Sie etwa behaupten, ich hätte Sie bestohlen?«
Er lächelte. »Man kann nie wissen.«
»Das ist ja wohl …« Sie sah sich um. Natürlich war ausgerechnet jetzt kein Schutzmann auf der Straße zu sehen. Und sogar der kräftige Bierkutscher war mittlerweile fort. »Polizei! Hilfe! Überfall!«
Passanten wandten sich neugierig nach ihnen um, und aus dem Laden eines Barbiers trat ein Schutzmann. Die Pickelhaube hatte er abgelegt, sein Gesicht war mit Seifenschaum bedeckt, um den Hals trug er ein großes weißes Tuch.
»He! Du da! Was treibst du da!«, rief er und kam näher.
Der junge Mann schüttelte bedauernd den Kopf. »Fräulein Victoria, ich muss Sie leider verlassen. Dabei haben wir uns noch gar nicht richtig kennengelernt. Nun denn, das Schicksal wird unsere Wege erneut zusammenführen, da bin ich mir sicher.«
»Nicht, wenn ich es verhindern kann.«
»Aller guten Dinge sind drei, Fräulein Victoria!« Er drückte ihr die Bücher in den Arm, nahm sie bei den Schultern und gab ihr einen Kuss. »So gehe denn hin, meine Schöne, auf bald!«
Er warf ihr noch eine Kusshand zu und war kurz darauf in der nächsten Seitenstraße verschwunden.
Sprachlos vor Zorn und Entrüstung blieb Victoria stehen.
»Ist alles in Ordnung, Fräulein?«, fragte der Polizist, der sie endlich erreicht hatte.
Sie war immer noch viel zu wütend, um zu sprechen, deshalb nickte sie.
»Soll ich den Burschen verfolgen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte sie schließlich und sah in das eingeschäumte Gesicht des Mannes. »Er war frech und anmaßend, aber er hat mir kein Leid angetan.«
Der Polizist nickte. »Kein Anstand, heutzutage. Diese Burschen werden immer dreister und vergessen, wie sie eine junge Dame zu behandeln haben. Einen schönen Abend wünsche ich, Fräulein. Geben Sie auf sich acht.«
Er nickte ihr zu und kehrte in das Ladengeschäft des Barbiers zurück, die Schaulustigen nahmen ihre unterbrochenen Tätigkeiten wieder auf. Victoria stand regungslos auf dem Bürgersteig, ihre Beine fühlten sich an, als wären sie festgewachsen. Sie war sich nicht sicher, ob ihr das eben wirklich widerfahren war. Es kam ihr eher vor wie einer jener Träume, in denen man in Unterwäsche über den Marktplatz geht oder im falschen Klassenzimmer ohne Bücher, Hefte und Hausaufgaben sitzt. Hatte er sie tatsächlich geküsst, mitten auf der Straße, vor allen Leuten? Ihre Wangen brannten vor Scham und Entrüstung. Nur ganz langsam kam sie wieder zu sich, nahm das Klappern der Hufe, das Rattern der Fuhrwerke und die Stimmen der Passanten wahr. Sie straffte die Schultern, und ohne nach rechts oder links zu blicken, setzte sie, so rasch und so würdevoll es eben ging, ihren Weg zur Haltestelle fort. Wenigstens würde sie diesen unverschämten, dreisten Kerl nie wiedersehen.
An diesem Abend hatte Victoria das Bedürfnis, ihren Vater in seiner Praxis aufzusuchen. Als sie bei dem Haus ankam, schien das Licht aus dem Behandlungszimmer hell auf den Gehsteig. Ein Hoffnungszeichen? Sie ging die drei Stufen hinauf, läutete, öffnete jedoch selbst die Tür und betrat die Eingangshalle.
»Guten Abend, Schwester Gertrud«, sagte sie zu der Krankenschwester, die gerade Laken und Handtücher in einem Weidenkorb verstaute.
»Oh, Fräulein Bülau. Ich dachte, es sei der Junge von der Wäscherei. Ihr Vater ist noch im Behandlungszimmer.«
»Darf ich zu ihm?«
»Ich denke schon. Der letzte Patient ist gerade da, aber er dürfte bald fertig sein.«
Victoria ging durch die leere Praxis, klopfte an die Tür des Sprechzimmers und wartete auf das
»Herein!«
ihres Vaters.
Ein untersetzter, muskulöser Mann mittleren Alters saß im Unterhemd mitten im Raum auf einem Hocker, die Hosenträger baumelten von seinem Hosenbund herab und schleiften auf dem Boden. Gotthard Bülau saß mit einem Stethoskop am Ohr hinter dem Mann und hörte die Lunge ab.
»Du kommst spät heute«,
Weitere Kostenlose Bücher