Haus des Glücks
Ihres Herrn Vaters wirken Wunder.« Die Blumenfrau hustete erneut. Ein trockenes, gurgelndes Geräusch, dessen Klang Victoria weh tat. »Sehen Sie? Es ist schon viel besser. Sagen Sie das bitte auch Ihrem Herrn Vater, Fräulein.«
»Das werde ich tun, Frau Petersen.«
»Einen Augenblick, Fräulein«, sagte die Blumenfrau, suchte in einem Eimer eine rosafarbene Dahlie und einen Rosmarinzweig heraus und überreichte sie ihr. »Für Ihren Herrn Vater. Er hat mir sehr geholfen. Und für Sie, Fräulein. Sie waren immer so freundlich zu mir.«
»Aber, Frau Petersen, Sie dürfen nicht …«
Die Blumenfrau drückte schnell ihre Hand, ihre Augen schimmerten feucht. »Es ist gut. Ich bin Ihnen dankbar, dass Sie mir die Behandlung bei Ihrem Herrn Vater ermöglicht haben.«
»Das habe ich gern getan.« Victoria nahm die Blumen aus den rauhen, kalten Händen und schluckte. Dahlien bedeuteten Dank, Rosmarin hingegen Abschied. Ob die Blumenfrau ahnte, dass ihre Tage gezählt waren? »Guten Abend, Frau Petersen.«
»Leben Sie wohl, Fräulein Bülau. Der Herr möge Sie segnen.«
Victoria setzte ihren Weg zur Haltestelle fort, Tränen brannten in ihren Augen. Immer wieder wandte sie sich um, bis sie die magere, zerbrechliche Gestalt an der Straßenecke nicht mehr erkennen konnte. Würde sie Frau Petersen übermorgen wiedersehen?
Der Duft des Rosmarins stieg ihr in die Nase, die Bücher waren schwer und drückten schmerzhaft gegen ihre Rippen, während sie im letzten Moment einem Bierkutscher auswich, der ein Fass durch die offene Tür eines Gasthauses rollte.
»Hoppla!«
Sie war so in Gedanken versunken, dass sie mit einem Passanten zusammenstieß. Sie stolperte. Der Bücherstapel entglitt ihr, und lediglich ein kräftiger Arm bewahrte sie davor, auf den Knien im Schmutz des Bürgersteigs zu landen.
»O nein!«, rief sie aus. »Die Bücher!«
»Verzeihung«, sagte der Mann, der ihr geholfen hatte. »Darf ich Ihnen behilflich sein?«
Victorias Wangen wurden heiß. Die Situation war ihr unangenehm, besonders, weil der Mann, der ihr so zuvorkommend helfen wollte, jung und gutaussehend war. Er hatte haselnussbraune Augen, die sie unter einem braunen Haarschopf anlachten, als müsste sie ihren Besitzer kennen.
»Gerne«, brachte sie hervor. »Danke.«
Gemeinsam mit ihr sammelte der junge Mann die verstreut herumliegenden Bücher ein. Zu ihrer großen Erleichterung waren sie kaum beschmutzt. Ein paar Spritzer auf den Einbänden, die sich leicht abwischen ließen, aber das Papier war zum Glück nicht beschädigt. Es wäre sehr unangenehm, Doktor Kümmell in einigen Tagen angestoßene Bücher zurückgeben zu müssen.
»
Lehrbuch der Anatomie Band 2, Praxis der Chirurgie
und
Angewandte Chirurgie.
Schwere Kost für ein zartes Wesen, Fräulein. Ich sollte Ihnen die Last abnehmen und Sie ein Stück begleiten«, stellte er fest, nahm ihr die Bücher ab und klemmte sie sich unter den Arm.
Einen Augenblick überlegte Victoria, ob das ein Trick war, um ihr die wertvollen medizinischen Fachbücher zu entwenden, doch der junge Mann sah nicht wie ein Dieb aus. Er lief auch nicht davon.
»Danke, aber ich kann allein weitergehen, zur Dampfbahn ist es nicht weit. Geben Sie mir bitte meine Bücher.« Sie streckte ihre Hand aus.
»Erst wenn Sie mir gesagt haben, wie Sie heißen.«
»Victoria. Würden Sie jetzt bitte …«
»Der gleiche Name wie die englische Königin!« Er lachte und verdrehte entzückt die Augen. »Wahrlich der Name einer Siegerin. Also, Fräulein Victoria, wo soll es hingehen?«
»Nirgendwohin«, entgegnete sie. Allmählich begann sie sich über die Frechheit des jungen Mannes zu ärgern. »Wenigstens nicht mit Ihnen.«
»Wenn ich nicht gewesen wäre, würden Sie jetzt mit blutigen Knien im Rinnstein liegen, Fräulein Victoria.«
»Wenn
Sie
nicht gewesen wären, wäre ich gar nicht erst in diese prekäre Lage geraten.«
»Wer ist denn in wen hineingelaufen? Ich habe wenigstens nach vorn geschaut.«
»Wenn dem so ist, hätten Sie mich nicht über den Haufen rennen müssen«, sagte sie. »Und jetzt geben Sie mir bitte meine Bücher zurück.«
»
Ihre
Bücher? Laut Eintrag im Inneren gehören Sie einem gewissen
Hermann Kümmell.
Ihr Herr Vater?«
»Nein.«
»So muss ich denn annehmen, dass nicht Sie die rechtmäßige Eigentümerin sind. Aber wir haben alle unsere kleinen Schwächen, nicht wahr?« Er senkte seine Stimme. »Ich bin Ihnen nicht böse, Fräulein Victoria. Ich bin sogar bereit, Sie nicht zu verraten
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