Haus des Glücks
weiß ich auch nicht, ob mir wohl dabei ist!«
»Wann reist ihr denn ab?«
»Morgen.«
»Morgen schon? So bald?«
»Um vier Uhr am Nachmittag legt das Schiff ab. Deshalb musste ich dich unbedingt heute sprechen. Ich wollte nicht, dass meine Hochzeit noch länger zwischen uns steht!«
»Dafür wird es in Zukunft ein Ozean sein!«
Weinend umarmten sie sich.
»Kannst du mir verzeihen?«
»Selbstverständlich, Franziska. Das ist doch schon längst geschehen. Ich war nur so wütend, weil ich in den vergangenen Monaten kaum etwas von dir gehört habe. Dass du dich schämen könntest, ist mir natürlich nicht in den Sinn gekommen. Was sind wir doch für zwei dumme Gänse«, schluchzte Victoria. »So viel kostbare Zeit haben wir vergeudet!«
»Aber wenigstens sind wir wieder Freundinnen«, sagte Franziska.
»Für alle Zeit. Und daran ändert auch der Atlantik nichts.«
Sie hielten sich immer noch fest.
»Kannst du noch zum Abendessen bleiben?«
»Leider nicht. Meine Schwiegereltern geben heute Abend ein
Farewell-Dinner,
das ist englisch und bedeutet nichts anderes als
Abschiedsessen.
Die ganze Familie meines Mannes und meine Eltern und Schwestern mit ihren Ehemännern kommen. Ganz bestimmt würden sie es mir nicht nachsehen, wenn ich nicht erscheine.«
»Das heißt also, dass ich dich heute Abend einfach gehen lassen, dir Lebewohl sagen und dich nie wiedersehen soll?«
Franziska zuckte mit den Schultern. »Natürlich werden wir uns schreiben.« Es klang hilflos. »Boston soll eine zivilisierte Stadt sein mit Bibliotheken, einer Universität, einem Theater …«
»Das ist mir gleich, solange sie dort drüben ein Postamt haben und ein Schiff, das mir deine Briefe bringt.«
»Versprochen.«
Die beiden Freundinnen umarmten sich.
»Du fehlst mir jetzt schon.«
Victoria schluckte. Sie konnte nichts mehr sagen. Als sie die Freundin zur Tür begleitete, wollten ihre Beine nicht voran, als wären ihre Schuhe mit Blei gefüllt.
»Und du willst nicht doch zum Essen bleiben?«, wagte sie noch einen Versuch. Franziska schüttelte den Kopf.
»Nein, danke. Ich wäre deiner Familie heute Abend eine traurige Gesellschaft und würde keinen Bissen hinunterbringen. Es wird schon schwierig genug zu Hause werden. Obwohl Mutter und Susanna uns bereits kommenden Sommer besuchen wollen.« Sie drückte Victorias Hände, dann umarmten sie einander erneut. »Lebe wohl, Victoria!«
Sie riss sich los und lief beinahe die Stufen hinunter zur Gartenpforte, wo ein Wagen auf sie wartete. Sie kletterte hinein, der Kutscher schloss die Tür hinter ihr, stieg auf den Kutschbock und fuhr los. Victoria stand an der offenen Tür, bis sie das Geräusch der Hufe auf dem Pflaster nicht mehr hören konnte.
Hamburg, 24 . April 1889
Franziska verlässt Hamburg. Sie wandert mit ihrem Mann nach Amerika aus. Nach Boston. Sie hat es mir heute erzählt. Ich bin immer noch wie vor den Kopf geschlagen. Sie ist meine beste, liebste und älteste Freundin. Und jetzt? Wir werden uns wahrscheinlich nie wiedersehen. Mir fällt es immer noch schwer, das zu glauben.
Nach dem Abendessen habe ich auf einer Landkarte nachgeschaut, wo Boston liegt. So weit weg! In Zukunft wird ein riesiger Ozean zwischen uns liegen. Das ist wie ein ganzes Leben.
7
Herbst 1889
I m Operationssaal war es still. Verborgen unter den großen grünen Tüchern lag der vom Äther betäubte Patient. Er atmete ruhig und gleichmäßig. Victoria liebte diesen Raum, in dem alles noch sauberer war als im übrigen Krankenhaus. Sie liebte die feierliche Stille, nur unterbrochen von den kurzen, präzisen Anweisungen des Chirurgen und den Geräuschen der Klemmen, den beißenden Geruch des Äthers, die strenge Hierarchie. Jede Kleinigkeit war wichtig, konnte über Leben und Tod entscheiden. Hier war ihr Platz, sie war ein Teil des Ganzen. Nicht der wesentliche Teil, aber ohne sie fehlte etwas.
Doktor Kümmell sah Victoria an. Normalerweise redete er gern und viel, scherzte mit Patienten, Schwestern und Pflegern. Doch am Operationstisch war er stets hochkonzentriert. Hier gab es kein überflüssiges Wort. Auf sein stummes Nicken hin reichte sie ihm das Skalpell. Das Messer blitzte im Licht der Operationslampe auf, die der Pfleger direkt über dem aufgedeckten Operationsgebiet hielt. Es war scharf, sie selbst hatte es geschärft und überprüft. Ruhig lag es in der Hand des Arztes, als er schnell und sicher den Bauchschnitt anlegte. Wie vermutlich jede Schwester hier im Krankenhaus
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