Haus des Glücks
jederzeit an Mutter Oberin zu wenden und darum zu bitten, nicht mehr gemeinsam mit Schwester Alberta eingesetzt zu werden. Aber Victoria war davon überzeugt, dass dies ein Teil der Prüfung war, die Schwester Innozentia sich für sie überlegt hatte, um ihre Eignung für den Orden festzustellen. Sie tat nie etwas ohne Grund. Deshalb hatte sie bisher zu Albertas Bosheiten geschwiegen. Deshalb schwieg sie auch jetzt, senkte den Blick und buchstabierte stumm medizinische Fachbegriffe rückwärts.
»Eine Braut Christi versieht ihren Dienst mit Ernst, Würde und Gehorsam. Dies ist ein Krankenhaus und keine Teegesellschaft, wie Sie sie aus Ihrem Elternhaus kennen. Sollten Sie tatsächlich eines Tages in den Orden eintreten, und ich muss zugeben, dass diese Vorstellung größtes Missfallen in mir hervorruft, müssten Sie noch viel lernen. Vor allem müssten Sie zunächst Ihren Stolz, Ihren Hochmut und Ihre Eitelkeit besiegen. Und ich glaube nicht, dass Ihnen das gelingen wird.«
Schwester Alberta rauschte davon und ließ Victoria allein in der Umkleidekammer der Helferinnen zurück. Sie kochte vor Wut. Am liebsten hätte sie laut geschrien. Schwester Alberta hatte nicht das Recht, so über sie zu urteilen, ausgerechnet sie. Sollte eine
Braut Christi
nicht ein fröhlicher, herzlicher Mensch sein, erfüllt von der Liebe und Barmherzigkeit Gottes? Und woher wusste sie überhaupt von ihrem Entschluss? Dafür, dass die Nonnen, bedingt durch ihr Schweigegelübde, nur zu bestimmten Zeiten miteinander sprachen, machten Neuigkeiten erstaunlich schnell die Runde unter ihnen.
Victoria legte Schürze und Kittel ab und zog ihr eigenes Kleid über. Dann strichen ihre Finger über die Bücher, die Doktor Kümmell ihr für die nächsten Tage zum Studium überlassen hatte. Vielleicht hatte Schwester Alberta recht mit ihren Beschuldigungen. Sie war stolz. Aber durfte sie das nicht sein? Durfte sie nicht froh und glücklich darüber sein, am medizinischen Fortschritt unmittelbar teilhaben zu können?
Seit der ersten Appendektomie vor fast einem halben Jahr hatte er noch mehr erfolgreiche Operationen durchgeführt, hatte überall in Deutschland Vorträge gehalten und mehrere Abhandlungen geschrieben, die Victoria in der Ärztezeitung ihres Vaters gelesen hatte. Diese Bücher hier waren seine eigenen Exemplare – ein Anatomiebuch und zwei Werke über Chirurgie.
»Der Erfolg der Appendektomien ist zum Teil auch Ihr Verdienst, Victoria«,
hatte er vor nicht einmal einer halben Stunde zu ihr gesagt und ihr nahegelegt, sich zur OP -Schwester ausbilden zu lassen.
»Sie haben Talent. Ich werde bei der Mutter Oberin ein gutes Wort für Sie einlegen. Und damit Sie Gelegenheit haben, sich auf die nächste Operation vorzubereiten, gebe ich Ihnen diese Bücher zur Lektüre mit.«
Sie sollte sich auf die nächste Operation vorbereiten! Sie konnte ihr Glück immer noch kaum fassen und war Gott dankbar für dieses Geschenk. Gewiss war ihre Freude darüber doch sicherlich verzeihlich. Und Schwester Alberta war vermutlich nur eifersüchtig.
Victoria wickelte die Bücher sorgsam in ein Tuch und verließ das Krankenhaus. Als sie die Ecke zur Hauptstraße erreicht hatte, sah sie Frau Petersen am gegenüberliegenden Blumenstand. Sie band gerade drei weiße Nelken zu einem kleinen Strauß und reichte ihn einem jungen Mann.
Frau Petersen!
Victoria freute sich, sie wiederzusehen. Mit Sorge hatte sie beobachtet, wie der Husten hartnäckig geblieben und die Blumenfrau seit dem Frühjahr immer bleicher und hinfälliger geworden war. Es schien, als würde ihre Gestalt von Woche zu Woche mehr verblassen, um schließlich zu verschwinden. Irgendwann hatte sie die Frau überreden können, zu ihrem Vater in die Praxis zu kommen. Das Ergebnis der Untersuchung war entmutigend. Frau Petersen hatte Krebs. Während des letzten Monats hatte ein junges Mädchen an ihrem Stand die Blumen verkauft, und Victoria hatte bereits das Schlimmste befürchtet. Doch jetzt war sie wieder da.
»Guten Tag, Fräulein Bülau!« Ein Lächeln erhellte das Gesicht der Blumenfrau.
»Frau Petersen!« Victoria versuchte, sich ihr Entsetzen angesichts der fahlgelben, eingefallenen Wangen und der tiefen Schatten um die Augen nicht anmerken zu lassen. »Wie schön, Sie wiederzusehen.«
»Ich musste ein paar Tage das Bett hüten. Meine älteste Tochter«, der Husten unterbrach sie. »Meine Tochter hat mich so lange vertreten. Aber jetzt geht es mir viel besser. Die Behandlung und die Medizin
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