Haus des Glücks
ein Verfahren erfinden, mit dem die Flüssigkeit über einen längeren Zeitraum hinweg kontinuierlich abgesaugt werden kann.«
Ihr Vater neigte den Kopf zur Seite und sah sie nachdenklich an. »In der Tat, das müsste man.«
»Und sonst kann man nichts für Frau Petersen tun?«
»Natürlich. Ich habe ihr Opiumtinktur verordnet. Das ist ein ausgezeichnetes Schmerzmittel, das zugleich den Hustenreiz lindert. Außerdem kann ich sie punktieren, solange sie es wünscht. Allein gegen diesen qualvollen, kräftezehrenden Prozess können wir nichts tun. Meiner Erfahrung nach sind es daher oft die Patienten selbst, die letztlich jede weitere Behandlung ablehnen. Die meisten wollen in Frieden sterben, sofern möglich, zu Hause im Kreis ihrer Familie.«
»Vater, diese Frau ist erst vierunddreißig Jahre alt. Sie hat sieben Kinder, das jüngste ist vier!«
»Du glaubst, dass es ungerecht ist, wenn sie stirbt?«
»Ist es das etwa nicht?«
»Ich stelle dir eine Gegenfrage: Wenn Frau Petersen vierundvierzig Jahre alt wäre oder nur zwei Kinder hätte – wäre ihr Tod dann weniger
ungerecht?
Oder nehmen wir an, sie wäre vierundachtzig oder eine verurteilte Betrügerin. Würde das einen Unterschied oder das Leiden
gerechter
machen?« Er schüttelte langsam den Kopf. »Ich bin Arzt. Mir steht es nicht zu, ein Urteil darüber zu fällen, welcher meiner Patienten seine Erkrankung verdient hat und welcher nicht. Vor mir stehen lediglich Menschen. Und meine Aufgabe ist es, mit all meinem Wissen und meiner Kraft jenen zu helfen, die sich mir anvertrauen. Das bedeutete Krankheiten zu heilen und dort, wo dies nicht möglich ist, Leiden zu lindern. Alles andere liegt allein in Gottes Hand.«
Victoria schwieg. Nach einer Weile nickte sie nachdenklich. »Sie haben recht, Vater«, sagte sie. »So habe ich das noch nicht gesehen. Vielleicht meint Schwester Innozentia das, wenn sie davon spricht, ich müsse noch Demut lernen.«
»Den eigenen Platz in Gottes großem Plan erkennen und ausfüllen, ohne sich dabei selbst erhöhen zu wollen oder geringzuachten. Wahrlich eine schwere Aufgabe.«
»Unlösbar. Wenigstens für mich.« Sie seufzte resigniert. »Anderen gelingt es viel leichter.«
»Andere stellen sich vermutlich auch nicht so viele Fragen.« Ihr Vater trat auf sie zu und legte ihr die Hände auf die Schultern. »Lass den Kopf nicht hängen, Victoria. Ich bin sicher, dass du deinen Weg und deinen Platz in dieser Welt finden wirst. Und sei es als Engel, der ausgeschickt wird, um anderen den Weg zu weisen.« Er küsste sie auf die Stirn. »Richte Mutter bitte aus, dass ich heute später nach Hause komme.«
»Müssen Sie noch einen Hausbesuch machen?«
»Nein. Du hast mich da eben auf einen Gedanken gebracht. Eine Idee beginnt in meinem Kopf zu reifen. Ich muss sie unbedingt weiterverfolgen, bevor ich sie wieder vergesse. Ihr solltet nicht mit dem Essen auf mich warten.«
Hamburg, 14 . September 1889
Heute war ein seltsamer Tag mit schwindelerregenden Höhen und unendlichen Tiefen. Doktor Kümmell hat mich im OP derart gelobt, daß ich mich vor Verlegenheit am liebsten in ein Mauseloch verkrochen hätte. Aber ich war so stolz! Und dann kam Schwester Alberta. Gott möge mir verzeihen, aber ich hasse diese Frau! Ich weiß, als angehende Ordensschwester sollte ich über solch niedere Gefühle erhaben sein. Aber es zerfrißt mich. Wenn ich sie schon sehe, würde ich ihr am liebsten ihre kalten, lieblosen Augen auskratzen.
Auf meinem Heimweg habe ich Frau Petersen getroffen. Ich war regelrecht erschrocken. Die Frau sieht aus wie der leibhaftige Tod! In gewisser Weise hat sie sich von mir verabschiedet. Ich fürchte, sie weiß, daß ihr nicht mehr viele Tage beschieden sind.
Ich war darüber so entsetzt und in Gedanken, daß mich ein junger Mann umgestoßen hat. Der Kerl war so dreist und wollte mich nach Hause begleiten. Und obendrein – man stelle sich das vor – hat er mich sogar mitten auf der Straße vor allen Leuten geküßt! Ein wildfremder Mann! Vor lauter Empörung hat es mir die Sprache verschlagen. Hübsche Augen hatte er. Aber was nützt das bei so viel Unverschämtheit?
Leider bestätigte Vater mir am Abend meine schlimmsten Befürchtungen. Frau Petersen ist sterbenskrank. Sie hat ein Krebsgeschwür, welches sie zunehmend schwächt. Er kann ihr nicht mehr helfen. Er punktiert sie zwar regelmäßig, aber es verschafft ihr lediglich kurzfristige Linderung. Dieses Leid ist so schwer zu ertragen! Ob man sich
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