Haus des Glücks
im Laufe der Jahre daran gewöhnt, Menschen an Krankheiten zu verlieren – Mütter, Familienväter, Großeltern, gar Kinder? Aber vielleicht ist gerade der Schmerz und das Gefühl der Niederlage der Ansporn, sich nicht mit dem erlernten Wissen und Können zufriedenzugeben, sondern weiterzuforschen. Und mit jedem Tag besser zu werden. Vielleicht ist das die wichtigste Lektion, die ich verstehen und begreifen muß, wenn ich Krankenschwester oder Ärztin werden will.
Dennoch glaube ich nicht, daß es mir jemals gelingen wird, mich damit abzufinden.
8
Herbst 1889
C hefarztvisite. Jeden Mittwoch bewegte sich eine ganze Schar Weißbekittelter über die beiden Stationen der chirurgischen Abteilung. Langsam und bedächtig ging Professor Breitmeier, gefolgt von Oberärzten, Medizinalassistenten und Krankenschwestern von Bett zu Bett. Er ließ sich die Krankengeschichten der Patienten erzählen, stellte den Ärzten Fragen zum Verlauf und gab Anweisungen zur Pflege, während die jüngeren Schwestern die Kranken so drapierten, dass der Professor einen guten Blick auf die Verletzung oder die Operationswunde hatte. Die Gespräche wurden mit gesenkten Stimmen geführt, als wollte man die Kranken in ihrer Genesung nicht stören. Victoria fand dieses Verhalten hochmütig. Es reduzierte den Patienten auf seine Erkrankung und degradierte ihn zu einem willenlosen, den Ärzten mit Haut und Haar ausgelieferten Wesen. Jedes Mal, wenn Professor Breitmeier die Reihen der Betten abschritt, musste sie daran denken, wie sie selbst in einem solchen Krankenbett gelegen hatte, dankbar für jede Form der Zuwendung und Erklärung zu ihrem Gesundheitszustand. Sie empfand Mitleid mit den Männern und Frauen, die stumm in ihren Betten lagen oder saßen und mit großen ängstlichen Augen an den Lippen der Ärzte hingen, als würden sie auf einen Urteilsspruch warten, dessen Bedeutung sie nicht verstanden. Sie fühlte sich mit ihnen verbunden und erklärte deshalb später in möglichst einfachen Worten, was die Doktoren über ihre Köpfe hinweg besprochen hatten.
Auch diesmal verließen die Ärzte den Saal und überließen die Patienten weiter dem Schicksal der Unwissenheit, während sie sich dem ersten der Privatzimmer zuwandten.
»Jetzt kommen wir zu Herrn John Seymour«, sagte Doktor Kümmell, eine Hand auf der Klinke, während die andere über seinen gepflegten, dunkelbraunen Schnurrbart strich. »Dreiundzwanzigjähriger Kaufmann. Er wurde gestern Abend mit starken abdominellen Beschwerden und dem Verdacht auf eine akute Appendizitis von den Kollegen des Hafenkrankenhauses überwiesen. Wir haben ihn noch in der Nacht notfallmäßig appendektomiert.«
»Verlauf?«
»Bisher komplikationslos. Der Wurmfortsatz war ein Prachtexemplar, zehn Zentimeter lang und hochgradig entzündet; wenige Stunden später wäre er ohne Zweifel geplatzt. Das gute Stück liegt zur Bewunderung bei unserem Pathologen – falls einer der Herren Kollegen einen Blick darauf werfen möchte.«
Der joviale Tonfall gefiel Professor Breitmeier nicht, und eine steile Falte bildete sich auf seiner Stirn. Aber er sagte nichts. Man sah Doktor Kümmell so manches Verhalten nach, das anderen Ärzten die Stellung gekostet hätte. Schließlich war er derjenige, der das Marienkrankenhaus über Hamburg hinaus in ganz Deutschland berühmt gemacht hatte. Er öffnete schwungvoll die Tür und betrat das Krankenzimmer, alle anderen folgten ihm. Die Mediziner drängten sich neugierig um das Bett. Obwohl Doktor Kümmell mittlerweile mehrere Appendektomien durchgeführt hatte, war es immer noch eine Sensation.
»Kommen Sie doch bitte, Victoria, und helfen Sie mir bei dem Patienten.«
Er lächelte ihr über die Köpfe der Ärzte hinweg zu, und sie spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht schoss.
Sie bahnte sich ihren Weg durch die weißen Kittel hindurch, vorbei an Schwester Alberta, in deren Augen der blanke Hass stand. Manchmal war Victoria froh, dass ein Gelübde die Nonne wenigstens zu einem Mindestmaß an Friedfertigkeit zwang.
Sie schlug das Laken zurück, legte die beiden Sandsäcke beiseite und entfernte die dicken Verbände, bis die Bauchdecke des Patienten offen lag. Den straffen, durchtrainierten Bauch des jungen Mannes verunzierte eine große Operationswunde, auf deren Wulst verkrustetes Blut klebte.
»Herr Seymour, können Sie mich hören?«, fragte Doktor Kümmell, setzte sich an die Bettkante und brach damit das seit Äonen bestehende Gesetz, dass der Chefarzt bei der
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