Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Haus des Glücks

Haus des Glücks

Titel: Haus des Glücks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yvonne Winkler
Vom Netzwerk:
sagte er über den Kopf des Mannes hinweg, ohne die Auskultation zu unterbrechen. »Das ist meine älteste Tochter, Herr Claasen. Bitte tief einatmen.«
    »Ein kleiner Zusammenstoß auf dem Weg, Vater«, erklärte sie kurz.
    Er ließ sein Stethoskop sinken und sah sie besorgt an. »Bist du verletzt?«
    Victoria schüttelte den Kopf. »Nein. Mir ist nichts passiert. Lediglich mein Kleid ist etwas schmutzig geworden.«
    »Bitte noch einmal husten. Danke, Sie können sich wieder anziehen, Herr Claasen.«
    »Und was ist es, Herr Doktor?« Die Augen des Mannes hafteten ängstlich auf dem Arzt, während er sich sein Hemd anzog und die Hosenträger über die Schultern streifte. »Ist es die Schwindsucht? Sie können es mir ruhig sagen, Herr Doktor, ich kann die Wahrheit vertragen.«
    »Nein, keineswegs, da kann ich Sie beruhigen, Herr Claasen.« Er legte das Stethoskop in den mit Samt ausgeschlagenen Holzkasten zurück. Die Ohrplatte aus Elfenbein war zu empfindlich, um das Gerät ungeschützt herumliegen zu lassen. »Ich kann weder Anzeichen für Tuberkulose noch für eine Lungenentzündung finden. Vermutlich haben Sie sich beim Frühsport im Park ein wenig verkühlt. Ich schreibe Ihnen eine Lösung auf, mit der inhalieren Sie dreimal täglich, und in zwei bis drei Tagen sollten sich die Symptome deutlich zurückgebildet haben.«
    »Danke, Herr Doktor, vielen Dank.«
    Der Herr verabschiedete sich und verließ die Praxis mit Hut, Schirm und dem Rezept in der Hand.
    »Das war der letzte Patient für heute«, sagte Gotthard Bülau und trat an das Becken, um sich die Hände zu waschen. Er warf Victoria im Spiegel einen Blick zu. »Was ist los, meine Tochter? Du hast doch etwas auf dem Herzen.«
    »Ich habe die Blumenfrau getroffen«, erwiderte sie und beschloss, von diesem Augenblick an keinen weiteren Gedanken mehr an den dreisten jungen Mann zu verschwenden. Sie würde ihn ganz einfach vergessen. »Frau Petersen war heute wieder an ihrem Stand und lässt Sie grüßen, Vater. Sie sagt, es ginge ihr besser. Die Arznei wirke gut.«
    »Das ist erfreulich.«
    »Aber sie sah so bleich und elend aus. Ich bin regelrecht erschrocken.«
    Vater nickte. »Ich weiß. Der Tumor ist bereits stark fortgeschritten. Im Grunde können wir nichts mehr für sie tun.«
    »Und warum geben Sie ihr Arzneien, wenn diese sie doch nicht heilen?«
    Er setzte sich auf den Rand seines Schreibtisches, nahm seine Brille ab und begann sie mit einem großen weißen Taschentuch zu putzen. »Weißt du, Victoria, als Arzt – aber gewiss auch als Krankenschwester – lernt man schnell, dass ein Großteil unserer Arbeit nicht darin besteht zu heilen, sondern zu lindern.«
    »Aber …«
    »Wir können keine Wunder bewirken. Frau Petersen ist dem Tod geweiht. Weder ich noch irgendein anderer Arzt auf dieser Welt wäre in der Lage, ihr Leben zu retten. Aber es liegt in unserer Macht, ihr Stunden zu schenken, Tage, vielleicht sogar Wochen, in denen ihr das Leiden erträglich ist. Kostbare Zeit für ihre Familie. Ein Funke Hoffnung. Die Möglichkeit, ihre Angelegenheiten zu regeln. Und das ist manchmal ebenso wichtig wie eine Heilung.«
    Victoria schüttelte den Kopf. »Aber das ist nicht richtig. Das ist …«
    »
Medicus curat Deus sanat.
Du weißt, was das bedeutet?«
    Sie nickte ungeduldig. »Der Arzt behandelt, Gott heilt; ich weiß. Aber damit kann ich mich nicht abfinden. Sie hätten ihren Husten hören sollen, Vater! Die Arme war so kurzatmig.«
    Gotthard Bülau warf einen prüfenden Blick durch die Brille und setzte sie sich auf. »Das liegt an einer Begleiterscheinung ihres Tumorleidens, dem sogenannten
Pleuraempyem,
Victoria, merke dir dieses Wort. Es handelt sich um eine Eiteransammlung in der Brusthöhle. Dadurch werden die Lungenflügel verdrängt, und das Atmen wird behindert, was bis zum Erstickungstod führen kann. Wir finden das Empyem bei Lungenentzündungen, nach Verletzungen des Brustkorbs und bei Tumoren. Es ist eine schwerwiegende Komplikation, die wir leider noch nicht beherrschen und an der viele Patienten – selbst bei günstigeren Voraussetzungen als in diesem Fall – sterben. Dass es der armen Frau bessergeht, ist meiner Ansicht nach weniger dem Medikament zuzuschreiben als der Tatsache, dass ich das Empyem vor ein paar Tagen punktiert und Eiter abgezogen habe. Sie spürt eine Entlastung und kann leichter atmen. Leider ist dieser Effekt nur von begrenzter Dauer, da sich der Brustkorb schon bald wieder füllen wird.«
    »Man müsste

Weitere Kostenlose Bücher