Haus des Glücks
Garten hinaus. Der Wind schüttelte die Blätter der großen Buche, unter deren Schutz im Sommer Patienten in Rollstühlen die Wärme genossen. Würde sie jemals wieder einen Patienten dort hinausbegleiten können? Unwillkürlich faltete sie die Hände.
O Herr, was hast Du Dir nur dabei gedacht?
Hamburg, 23 . Oktober 1889
Der unverschämte Kerl, der mich vor einiger Zeit auf der Straße angerempelt und geküßt hat, heißt John Seymour. Zur Zeit liegt er bei uns auf der Chirurgischen. Doktor Kümmell hat ihn appendektomiert, und so wie es aussieht, scheint er es zu überleben. Leider. Bei der Visite heute hat er wirklich dem Faß den Boden ausgeschlagen. Er hat vor allen Anwesenden – einschließlich Professor Breitmeier, Mutter Oberin und Schwester Alberta – verkündet, ich sei seine Braut! Ich weiß, eine angehende Ordensschwester sollte an so etwas nicht einmal im Traum denken, aber ich kann nicht anders: Diese Unverschämtheit schreit geradezu nach Rache! Ich weiß nur noch nicht, wie. Ich schwanke zwischen einer ordentlichen Portion Rizinusöl und einem Brechmittel. Natürlich muß er erst zu Kräften gekommen sein, ich will ihn schließlich nicht umbringen. Aber Strafe muß sein!
»Der Patient aus Zimmer 3 ist jetzt wach und verspürt das Bedürfnis, Wasser zu lassen«, verkündete Schwester Alberta. »Sie sollten das übernehmen, Victoria. Immerhin ist es Ihr Verlobter.«
Sie hielt ihr die Bettpfanne hin. Für das triumphierende Grinsen hätte Victoria der Schwester ohne Skrupel ins Gesicht schlagen können. Seit drei Tagen musste sie schon den bissigen Spott der Nonne über sich ergehen lassen. Allerdings war Alberta so gut gelaunt, wie man es von ihr nicht kannte. So hatte diese ganze unerfreuliche Geschichte wenigstens ein Gutes.
»Los, los, Sie sollten sich beeilen. Und berichten Sie mir ausführlich.«
»Ja«, knurrte Victoria und machte sich auf den Weg. Natürlich gehörte das zur Krankenpflege dazu, es waren wichtige Verrichtungen. Trotzdem gab es Kenntnisse über andere Menschen, auf die sie keinen großen Wert legte. Und das galt vor allem für gewisse Körperteile von John Seymour.
Sie öffnete die Tür seines Krankenzimmers und trat ein. Der Vorhang war zurückgezogen und gab den Blick auf einen herbstlich blauen Himmel frei.
»Guten Morgen.«
»Guten …«, er brach ab, zog das Laken bis zu seinem Kinn hoch. »Nein, nicht Sie! Ich möchte, dass eine andere Schwester kommt.«
»Das hätten Sie sich überlegen sollen, bevor Sie lauthals verkündet haben, dass wir verlobt sind«, sagte Victoria. »Jetzt bin ich zu Ihrer Pflegerin ernannt worden.« Unbarmherzig schlug sie das Laken zurück und John Seymours Wangen färbten sich dunkelrot. Sie hob sein Krankenhausnachthemd an und schob ihm die Bettpfanne unter.
»Könnten Sie … könnten Sie bitte aus dem Zimmer gehen?«
»Nein. Ich muss aufpassen.«
»Aber dann kann ich nicht!«
»Sie werden können müssen, wenn Sie dieses Haus jemals wieder verlassen wollen.«
»Könnten Sie sich bitte wenigstens umdrehen?«
Sie tat ihm den Gefallen und trat ans Fenster.
»Sind Sie wütend auf mich, Victoria?«
»Ob ich …« Einen Augenblick verschlug es ihr die Sprache. »Wie kommen Sie denn auf diese Idee? Ich finde es geradezu hinreißend, mitten auf der Straße von einem wildfremden Mann überfallen und geküsst zu werden. Und dass eben dieser Mann schließlich vor meinen Kolleginnen und Vorgesetzten behauptet, er wäre mit mir verlobt, so dass mich Mutter Oberin zu sich zitiert, stellt doch wahrlich keine Gründe dar, um wütend zu sein, oder?«
»Sie sind wütend auf mich«, stellte er fest.
»Hätte ich denn einen Grund? Lassen Sie mich überlegen.« Sie legte ihre Stirn in Falten. »Mutter Oberin wird meine Aufnahme in den Orden nochmals strengstens prüfen. Ich kann froh sein, dass ich hier überhaupt noch arbeiten darf. Ach, und von dem Gerede und Gespött, das ich seit Ihrer Ankündigung erdulden muss, und Schwester Albertas Bosheiten will ich jetzt nicht sprechen.«
John Seymour knetete das Laken auf seiner Brust. »Hilft es Ihnen, wenn ich Sie um Verzeihung bitte?«
»Natürlich hilft mir das. Vielleicht kann ich mir damit die Scherben meines Lebens wieder zusammenleimen.«
Er blickte sie zerknirscht an. »Wirklich, Victoria, es tut mir leid. Ich wollte Ihnen niemals schaden, ganz bestimmt nicht. Das müssen Sie mir glauben.«
»Das hätten Sie sich besser früher überlegen sollen.«
Einen Augenblick war
Weitere Kostenlose Bücher