Haus des Glücks
und wagte kaum, die Antwort zu hören.
»Was auch immer ein Mann, der einen letzten Rest seiner Ehre retten will, tun muss«, antwortete er leise. Der Ausdruck seiner Augen und das traurige Lächeln sprachen Bände. Er strich ihr mit dem Handrücken über die Wange. »Ich werde mich jetzt zurückziehen«, sagte er und küsste sie sanft. »Ich muss nachdenken.«
Victoria sah ihm nach, wie er den Salon durchquerte und ins Herrenzimmer ging. Seine Schritte waren schwer und schleppend, als wäre er innerhalb der letzten halben Stunde um Jahrzehnte gealtert. Ihr Herz klopfte bis zum Hals. Es war nicht die Angst vor der drohenden Armut, die ihr die Kehle zuschnürte. Johns Kuss war ein Abschiedskuss gewesen. Sie fürchtete um sein Leben. Sie musste etwas tun. Sofort!
Ohne lange zu überlegen, lief Victoria in den Flur und warf sich hastig ihren Mantel über, ohne auf Friederikes Hilfe zu warten.
»Sie wollen jetzt noch ausgehen, gnädige Frau?«, fragte das Mädchen verwundert.
»Ich muss.«
Karl, der persönliche Diener ihres Mannes trat aus dem Dienstbotenzimmer. In der Hand hatte er einen Lappen und Johns rechten Stiefel. »Das Telegramm? Schlechte Nachrichten?«
Sie nickte. »Und jetzt müssen wir alles tun, um noch weit Schlimmeres zu verhindern. Ich werde zu meinen Schwiegereltern eilen, vielleicht können sie helfen. Passen Sie auf meinen Mann auf, während ich fort bin. Bedrängen Sie ihn nicht, aber behalten Sie ihn im Auge. Und lassen Sie auf keinen Fall zu, dass er sich im Herrenzimmer einschließt!«
Karl stellte den Stiefel ab, griff nach der Feueraxt, die in einer Nische neben der Eingangstür hing und eilte mit langen Schritten zum Salon. Offenbar hatte er verstanden.
Friederike öffnete die Tür. Ihr Gesicht war bleich und ihre Unterlippe bebte. »Kann ich etwas tun, gnädige Frau? Ich möchte auch helfen.«
Victoria ergriff ihre Hand und drückte sie in aufrichtiger Dankbarkeit. »Du kannst beten, Friederike. Bete für mich, dass ich meine Schwiegereltern im Haus antreffe. Und bete, dass ich rechtzeitig und mit guter Botschaft zurückkehre.«
Victoria lief die Treppen hinunter. Ihre Schwiegereltern wohnten in der Nähe des Hafens, etwas über eine halbe Stunde Fußweg von ihrer Wohnung entfernt. Doch sie hatte an diesem Abend keine Zeit für einen Spaziergang. Inständig flehte sie den Himmel um eine Kutsche an, und ihr Gebet wurde erhört. Als sie auf die Straße trat, stand vor dem Nachbarhaus ein Einspänner. Ein Ehepaar war gerade im Begriff einzusteigen. Die älteren Herrschaften waren Nachbarn. Man kannte sich zwar nicht persönlich, grüßte jedoch, wenn man sich im Park oder auf dem Markt traf.
Victoria stieß einen Schrei aus und stürzte auf sie zu.
»Guten Abend. Verzeihen Sie, ich brauche Ihre Kutsche. Es ist ein Notfall!« Und noch ehe die beiden etwas entgegnen oder protestieren konnten, war sie auch schon eingestiegen. Sie gab dem Kutscher die Adresse der Schwiegereltern. »Beeilen Sie sich!«
Der Mann ließ sich seine Verwunderung nicht anmerken, sondern wendete gehorsam die Pferde und fuhr in entgegengesetzter Richtung zum Hafen.
»Es tut mir leid!«, rief Victoria dem Ehepaar durch das Wagenfenster zu. »Vielen Dank!« Sie ließ sich in den Sitz sinken. Was mochten die beiden Herrschaften von ihr denken? Egal. Erklären konnte sie sich morgen. Jetzt ging es um Leben und Tod. Sie erinnerte sich daran, dass eine ähnliche Kutsche wie diese sie vor sechs Monaten zu ihrer Trauung gefahren hatte. Möge sie jetzt nicht zu einem Leichenkarren werden. Ihre Schwiegereltern waren herzensgute Menschen. Dass sie John, ihrem einzigen Sohn, aus der Not helfen würden, stand für sie außer Frage. Aber hoffentlich traf sie die beiden zu Hause an. Hoffentlich!
Der Kutscher verlangte den Pferden das Äußerste ab, und nach kurzer Zeit hatten sie das Haus der Teehändler Seymour erreicht.
Der Mann hatte den Wagen kaum zum Stehen gebracht, als Victoria auch schon hinaussprang. »Warten Sie hier!«, rief sie dem Kutscher zu, bevor sie ihre Röcke raffte und in undamenhafter Eile auf das hell erleuchtete Haus zurannte. Ob die Schwiegereltern bereits von dem Unglück erfahren hatten? Möglicherweise hatten auch sie ein Telegramm erhalten, schließlich gehörte das Kontor in Indien ihnen. Dann würde sie sich nicht lange erklären müssen.
Sie hastete die Stufen zur Haustür empor, läutete und trat ungeduldig von einem Bein auf das andere. James, der Diener des Hauses, war ein echter
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