Haus des Glücks
zu ihrer Wohnung hinauf, dass sie nicht mit ihm mithalten konnte. Als sie endlich außer Atem im zweiten Stockwerk ankam, hatte Friederike bereits die Tür geöffnet. Die rotgeweinten Augen des Mädchens ließen Victoria erstarren.
Wir sind zu spät!,
dachte sie, und ihr wurde übel.
Es ist vorbei. John hat sich etwas angetan.
»Wo ist er?«, fragte sie mit trockener Kehle.
»Immer noch im Herrenzimmer, gnädige Frau«, sagte das Mädchen unter Schluchzen. »Karl ist bei ihm. Und Ihr Herr Schwiegervater.«
Victoria wankte durch den Flur. Sie musste sich an der Wand festhalten, um nicht zu stürzen. Es war aus. Es gab kein Zurück mehr. Diesmal würde es keine Lösung geben.
Die Tür zum Herrenzimmer stand offen, Karl lehnte am Rahmen, bleich und erschöpft, die Axt hielt er immer noch in der Hand.
»Gnädige Frau!«, sagte er, sein Gesicht wirkte grau und eingefallen.
Victoria wagte kaum, den Blick zu heben. Sie wollte die Wahrheit nicht sehen, und doch würde sie es müssen. Sie durfte ihre Augen nicht verschließen.
Auf dem Schreibtisch lag schwarzglänzend die Pistole. John bewahrte sie in einer der Schubladen auf, sie hatte sie bisher nur zwei- oder dreimal zu Gesicht bekommen. Dabei hatte sie nie unschuldig ausgesehen. Victoria war immer bewusst gewesen, dass es sich bei diesem kleinen Gegenstand, der gerade in die Hand eines Mannes passte, um ein Mordinstrument handelte. Doch jetzt kam ihr das tote schwarze Metall fast bösartig vor, hinterlistig und heimtückisch. Vielleicht hatte dieses Ding die ganze Zeit über nur auf eine Gelegenheit gewartet, eine Kostprobe seiner Grausamkeit geben zu können. Sie schluckte. Der Stuhl hinter dem Schreibtisch war leer, der Teppich darunter auch. Wo war John? Ihr Blick irrte durch das Zimmer; die Bücherregale entlang, über die Sessel hinweg, schließlich zum Fenster. Und dort sah sie ihn endlich – aufrecht, beide Hände in den Hosentaschen, sein Gesicht spiegelte sich in der Scheibe. Ihr Herz wurde plötzlich leicht, so leicht, dass sie weinen musste.
Ihr Schwiegervater stand neben John. Er nickte ihr zu, erleichtert und um zehn Jahre gealtert. »Wir sind rechtzeitig gekommen.«
John wandte sich zu ihr um, langsam, als würden ihn zentnerschwere Gewichte am Boden festhalten. Doch das machte nichts. Die Erleichterung verlieh ihr Flügel, die kräftig genug waren, sie beide zu tragen. Sie lief auf ihn zu und fiel ihm um den Hals. Wie Sturzbäche liefen ihr die Tränen über das Gesicht und vermischten sich mit seinen.
»Ich konnte nicht«, flüsterte er. »Der Gedanke, dass du allein zurückbleiben und dir möglicherweise die Schuld geben würdest, war unerträglich.«
Sie küssten sich. Dann spürte Victoria eine Hand auf dem Arm. Es war ihr Schwiegervater.
»Lass uns bitte allein«, sagte er. »John und ich müssen besprechen, wie wir die Angelegenheit aus der Welt schaffen können.«
Victoria sah John an. Ihren Mann. Es kam ihr vor, als hätte sie ihn zum zweiten Mal geheiratet. Und gerade jetzt, wo sie ihn vor wenigen Augenblicken begraben hatte und er ihr doch neu geschenkt worden war, wollte sie ihn nicht verlassen. Sie musste seine Hand auf ihrer Hand spüren, seinen Atem auf ihrem Gesicht, in seine braunen Augen sehen, um glauben zu können, dass sie nicht träumte. Aber dieses Gespräch zwischen Vater und Sohn war wichtig, es würde über ihr Leben und ihre Zukunft entscheiden. Und sie fügte sich.
»Ich warte im Salon«, sagte sie und presste seine Hand kurz an ihre Wange.
»Ich rufe dich, sobald wir fertig sind«, versprach John und wischte sich die Tränen aus den Augen.
Victoria verließ das Herrenzimmer.
»Danke, Karl«, flüsterte sie dem Diener zu und nahm sich vor, ihm diese Woche einen Tag zusätzlich frei und obendrein Geld zu geben, damit er seine Familie in Stade besuchen konnte. »Danke, dass sie meinen Mann in dieser dunklen Stunde nicht allein gelassen haben. Sie haben uns einen großen Dienst erwiesen. Genehmigen Sie sich einen Whisky oder Portwein oder was immer Sie mögen. Sie sehen aus, als könnten Sie eine kleine Stärkung vertragen.«
Karl nickte und brachte die Axt an ihren Platz zurück.
Victoria setzte sich auf das Sofa im Salon. Friederike kam mit einer Tasse Kamillentee, ohne dass sie danach hatte fragen müssen. Dankbar trank sie einen Schluck.
»Wie steht es mit dem Essen, gnädige Frau?«
»Essen? Ach, das Essen!« Sie dachte einen Augenblick nach. »Wenn die Herren fertig sind, werden wir uns zu Tisch begeben.
Weitere Kostenlose Bücher