Haus des Glücks
weiter nichts ist.«
»Ich habe doch auch ein Geschenk für dich«, sagte sie und deutete auf seinen Teller. Erst jetzt schien John es überhaupt zu sehen. Ungeduldig riss er das Seidenpapier auf. Seine Augen blieben an dem in Leder gebundenen Buch haften und leuchteten auf, als er den Titel las. »Sherlock Holmes von Doyle! Wie … woher …«
»Ich habe in der Nähe von Sankt Michaelis eine Buchhandlung entdeckt, die englische Autoren führt. Dieser Band ist gerade letzte Woche dort eingetroffen.«
Er strahlte sie an und drückte ihre Hand über den Tisch hinweg. »Heute Abend werde ich dir vor dem Kaminfeuer daraus vorlesen«, sagte er.
»Ist das nicht ein Kriminalroman?«
»Natürlich. Aber erstens hast du starke Nerven, und zweitens muss deine Mutter es nicht wissen. Dies ist unser Haus, und wir können hier tun und lassen, was wir wollen. Nicht wahr?«
»Ja«, erwiderte Victoria und dachte erneut daran, welch ein Glück sie mit John hatte. Sie freute sich bereits jetzt darauf, neben ihm auf dem Sofa vor dem Kamin zu sitzen und seiner Stimme zu lauschen, die immer etwas anders klang, wenn er Englisch sprach. Vornehmer, als wäre er ein Earl oder Lord. Und dann stellte sie sich vor, sie würde mit ihm auf einem alten ehrwürdigen Schloss leben – obwohl ihre Wohnung keine Wünsche offenließ. »Und jetzt iss, bevor die Scones alt werden.«
»Keine Sorge, mein Schatz«, sagte er.
Sie bestrichen die aufgeschnittenen Teebrötchen mit Marmelade und verteilten einen Löffel Schlagsahne darauf. Victoria hatte diese kleinen englischen Teekuchen vor ihrer Hochzeit nicht gekannt, jetzt schwärmte sie fast ebenso dafür wie ihr Mann. Zusammen mit dem feinen, nach Bergamotte schmeckenden Tee waren sie eine Köstlichkeit. Während sie aßen, berichtete John von den Neuigkeiten aus dem Kontor, unterhielt sie mit Anekdoten über einen der Buchhalter und lachte mit ihr über die komischen Begebenheiten, die ihr im Laufe des Tages widerfahren waren. Sie hatten das Essen gerade beendet, und Victoria schenkte jedem noch eine letzte Tasse Tee ein, als es an der Tür klingelte.
»Wer mag das sein?«, fragte sie, und ihre Augen glitten zur Uhr. Es war kurz vor sechs. »Hast du Gäste eingeladen?«
»Nein«, sagte John und tupfte sich mit der Serviette den Mund ab. »Selbstverständlich hätte ich dir davon berichtet. Außerdem würde ich Besuch niemals um diese Zeit einladen – es ist zu spät für den Tee und viel zu früh für das Dinner. Vielleicht ein Lieferant?«
»Das kann nicht sein, ich habe nichts bestellt. Deine Eltern?«
Er zuckte mit den Schultern. »Unwahrscheinlich. Ich habe meinen Vater noch vor einer Stunde im Kontor gesprochen. Er hat keinen Besuch angekündigt. Und deine?«
Sie schüttelte den Kopf. »Vater ist um diese Zeit noch in der Praxis beschäftigt, und Mutter würde sich ankündigen. Sie hat mir erzählt, wie sie es gehasst hat, wenn meine Großmutter unangemeldet und zu jeder beliebigen Tageszeit vor der Tür stand.«
»Folglich bleibt die Angelegenheit spannend«, sagte John mit einem Lächeln. »Ah, da kommt Friederike, sie wird uns aufklären können.«
Das Mädchen kam auf die Veranda. »Verzeihen Sie die Störung. Ein Telegramm für den gnädigen Herrn.« Sie knickste und legte ein Tablett mit einem Umschlag vor John auf dem Tisch ab. »Ich habe dem Boten ein Trinkgeld aus dem Kästchen im Flur gegeben.«
»Das haben Sie gut gemacht Friederike, vielen Dank«, sagte John. Das Mädchen knickste und ging, während John das Kuvert aufriss. »Eine Depesche aus unserem Kontor in Bombay.«
Victoria sah zu, wie er mit gerunzelter Stirn las, ihr Herz klopfte plötzlich bis zum Hals. Sie ahnte, dass dieses Telegramm eine Unglücksbotschaft enthielt. Johns Reaktion bestätigte ihre Befürchtung. Er blickte auf, starrte ins Nichts, schüttelte den Kopf und las erneut. Dreimal wiederholte sich diese Prozedur. Schließlich ließ er die Nachricht sinken und fuhr sich mit der Hand durch das Haar. Sein Gesicht war so weiß wie das Tischtuch. Es musste etwas Schreckliches geschehen sein, daran zweifelte Victoria keinen Augenblick. »Was ist passiert?«
Er schien sie nicht zu hören.
»John? Was ist passiert?«, wiederholte sie. Die Angst kroch ihr den Rücken hinauf und ließ sie schaudern.
»Die … die Schiffe … das Kontor …« Er räusperte sich, starrte aus dem Fenster über die Alster, rieb sich die Augen, als glaubte er zu träumen. »Unser Kontorist in Indien teilt mit, dass
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