Haus des Glücks
weiße Anzüge ihre braune Haut noch dunkler erscheinen ließ, räumten den Braten und die Teller ab und servierten ein Dessert aus Bananen.
Hoffentlich gibt es danach nicht noch Tanz, dachte Victoria und widmete sich ihrer Nachspeise. Die Augen wollten ihr beinahe schon zufallen, die Gespräche am Tisch verschwammen zu einem Rauschen. Sie war dankbar, als sich der Gouverneur endlich erhob, das Mahl für beendet erklärte und den Gästen einen angenehmen Heimweg und eine gute Nacht wünschte. Und wie erleichtert war sie erst, als John sie zu ihrem Hotel führte und sie die Treppe zu ihrem Zimmer hinaufstiegen! Auch er war bleich und erschöpft. Ohne ein Wort zu sagen, entkleideten sie sich und waren eingeschlafen, kaum dass sie im Bett lagen.
15
Herbst 1891
D er Morgen begann für Victoria mit einem Schock: Sie erwachte mit Bauchschmerzen. Zuerst versuchte sie, sich auf die Seite zu drehen und weiterzuschlafen, doch es wurde nicht besser. Sie nahm ein unangenehmes Ziehen im Unterleib wahr. Draußen setzte gerade erst die Morgendämmerung ein, durch die Ritzen der Fensterläden drang ein schwacher Lichtschein, John schlief und schnarchte ein bisschen. Um ihn nicht zu wecken, stand sie so leise wie möglich auf und ging ins Bad. Das Ziehen wurde stärker, und zu ihrem Entsetzen musste sie feststellen, dass sie blutete.
Nein!
Sie hielt sich mühsam am Waschtisch fest. Die Kacheln des Badezimmers begannen sich um sie herum zu drehen, und das Mosaik des Terrazzobodens schien ihr entgegenzukommen.
O Herr, bitte nicht! Das nicht! Nicht mein Kind! Bitte lass mir mein Kind!
Tränen schossen ihr in die Augen, vor Angst wurde ihr so übel, dass sie fast ohnmächtig wurde. Was sollte sie jetzt tun? Natürlich zum Arzt gehen. Aber dies hier war nicht Hamburg oder Deutschland, nicht einmal Europa. Es gab hier weit und breit keinen Gynäkologen und Geburtshelfer, nur diesen wissend und spöttisch dreinblickenden Doktor von Kolle. Sollte sie es wagen, sich ihm anzuvertrauen?
Was bleibt dir übrig?,
dachte sie und begann sich anzukleiden. Wenn sie sich schon nicht an einen kompetenten Facharzt wenden konnte, wollte sie wenigstens keine Zeit verlieren. Was aber war mit John? Sie musste ihm eine Nachricht hinterlassen. Im Halbdunkel suchte sie auf dem Toilettentisch nach Briefpapier und Johns Füllfederhalter.
Bin wegen einer Unpässlichkeit beim Arzt. Ich wollte dich nicht wecken. Mach dir keine Sorgen.
In Liebe, Victoria
Sie legte die Nachricht sichtbar auf ihr Kopfkissen und verließ auf Zehenspitzen das Zimmer.
Ein einheimisches Dienstmädchen in dunklem Kleid und mit weißer Haube und Schürze fegte gerade die Halle, der Nachtportier, ein junger, etwas verwegen aussehender Franzose, saß schief auf seinem Stuhl und spielte gelangweilt mit einer Münze herum.
Als die Treppe unter Victorias Schritten knarrte, fuhr er erschrocken hoch. »Madame«, sagte er und lächelte mit einstudierter Freundlichkeit. »Was kann ich für Sie tun?« Er sprach ein nahezu fehlerfreies Deutsch mit weichem Akzent. Schon am Vorabend hatte Victoria sich gewundert, dass es einen Franzosen mitten unter Deutsche in die Südsee verschlagen hatte. Zu Hause in Hamburg wäre er wegen der napoleonischen Feldzüge in der Vergangenheit gewiss nicht am Empfang eines erstklassigen Hotels geduldet worden. Vielen Menschen fiel es immer noch schwer, zu verzeihen, und sie reagierten deshalb empfindlich. Auf Samoa jedoch schien alles möglich.
»Ich bin unpässlich und muss den Arzt aufsuchen. Wo finde ich die Praxis von Doktor von Kolle?«
»Aber Madame, wir können einen Boten zu ihm schicken, Sie brauchen sich nicht zu bemühen.«
»Nein, danke. So schlimm ist es zum Glück nicht, als dass ich mein Zimmer nicht verlassen könnte.« Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Wären Sie so freundlich, mir den Weg zu seiner Praxis zu beschreiben?«
»Natürlich, Madame. Doktor von Kolle wohnt gleich rechts neben dem Rathaus. Es sind nur ein paar Schritte von hier.«
»Vielen Dank«, erwiderte sie. »Und ich habe noch eine Bitte. Mein Mann schläft noch, ich habe ihm zwar eine Nachricht hinterlassen, aber …«
»Soll ich ihn zu Doktor von Kolle schicken, wenn er sich nach Ihnen erkundigt?«
»Nein, nicht nötig. Wie ich bereits sagte, ist es nichts Ernstes. Er kann schon mit dem Frühstück anfangen.«
»Wie Sie wünschen, Madame.«
Sie trat aus dem Hotel auf die Straße. Es war still zu dieser Zeit in Apia, kein Mensch war zu sehen. Sie schaute
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