Haus des Glücks
tätschelte kurz ihren Arm. »Es ist alles in Ordnung, Ihr Kind ist wohlauf.«
Sie sah ihn an und konnte es im ersten Moment nicht glauben. Wollte er sie nur schonen? Aber nein, zu solchen Regungen war dieser Mann gewiss nicht fähig, er gehörte eher zu jenen Ärzten, die ihren Patienten stets die ganze Wahrheit sagten. Tränen der Erleichterung schossen ihr in die Augen. »Wirklich?«, fragte sie weinend.
»Ja. Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Wahrscheinlich haben Sie sich überanstrengt – die lange Seereise, die Ankunft gestern und gleich danach das Dinner mit den ungewohnten Speisen. Sie sollten sich Ruhe gönnen und ein paar Tage das Bett hüten, bis sich alles beruhigt hat.« Er grinste spöttisch. »Also kein Teekränzchen bei der Frau Gouverneur.«
»Ach du meine Güte, das hätte ich beinahe vergessen«, sagte sie. »Dabei möchte ich die Dame auf keinen Fall kränken. Sie ist so eine freundliche, hilfsbereite Frau! Aber ich kann ihr kaum die Wahrheit erzählen, weshalb ich ihre Einladung zum Tee absagen muss.«
Er zuckte mit den Schultern. »Sagen Sie ihr einfach, dass Sie unpässlich sind. Das kommt bei Neuankömmlingen oft vor. Das ungewohnte Essen, die Luft, die Wärme, die Anstrengungen der Reise. Es gibt viele Gründe. Sie können sich anziehen.«
Er half ihr auf, und sie ging hinter den Paravent. Während sie sich ankleidete, hörte sie das Wasser plätschern, als er sich die Hände wusch.
»Sie bleiben heute und morgen im Bett. Schonen Sie sich, essen Sie nur leichte, gekochte Speisen, vermeiden Sie vor allem rohes Obst und Gemüse. Und am Freitag sehe ich Sie wieder hier in der Praxis. Sagen wir um zehn Uhr?«
»In Ordnung, Herr Doktor.«
»Sollte jedoch in der Zwischenzeit irgendetwas sein – die Schmerzen oder die Blutung stärker werden oder …«
Victorias Herz setzte ein paar Schläge aus. »Aber Sie sagten doch eben, dass alles in Ordnung ist. Glauben Sie, es besteht Gefahr für das Kind?«
»Nein, Frau Seymour, das glaube ich nicht. Aber ich kann es nicht ausschließen. Jedenfalls kann ich Ihnen keine Garantie darauf geben. Deshalb meine Bitte, sich umgehend zu melden, wenn etwas ist. Ja?«
»Das werde ich tun«, versprach Victoria. »Auf Wiedersehen, Herr Doktor. Danke, dass Sie mich trotz der frühen Stunde behandelt haben.«
»Dafür bin ich schließlich da. Darf ich Ihnen noch einen guten Rat geben, Frau Seymour?« Sie sah ihn aufmerksam an, und er fuhr fort. »Ich möchte Sie warnen. Sie fragten gestern nach den Schlangen im Paradies. In Mechthild haben Sie eine von ihnen gefunden. Seien Sie vorsichtig im Umgang mit dieser Frau.«
Victoria sah ihn überrascht an. Wollte er mit ihr scherzen? »Danke für den Ratschlag«, entgegnete sie höflich. »Was bin ich Ihnen schuldig?«
»Ich werde eine Rechnung schreiben. Irgendwann«, sagte er, und ein schiefes Lächeln huschte über sein Gesicht. »Hier ist es nicht wie in Deutschland, Frau Seymour. Dies ist eine Insel. Wer einem anderen etwas schuldet, hat keine Chance zu entkommen.«
Einen Augenblick fragte sie sich, ob dies eine versteckte Drohung sein könnte, dann beschloss sie, dass es die Art des Doktors war, zu scherzen. Bei ihrer Arbeit im Krankenhaus hatte sie viele Ärzte mit derbem Humor kennengelernt. Also lächelte sie.
»Bis Freitag, Frau Seymour.«
»Auf Wiedersehen, Herr Doktor.«
Sie trat auf die Straße hinaus, die immer noch still und verlassen vor ihr lag. Die Kirchturmuhr zeigte sechs Uhr. In Hamburg wären jetzt bereits die Arbeiter auf dem Weg zum Hafen, Fuhrwerke ratterten über das Kopfsteinpflaster, aus den Backstuben röche es nach frischem Brot. Das Leben in Apia schien erst später zu beginnen.
Victoria flog beinahe zum Hotel zurück, so leicht und glücklich war sie. Sie nahm sich fest vor, John noch an diesem Morgen von dem Kind zu erzählen. Er hatte ein Recht darauf, es endlich zu erfahren. Sie wollte sich gemeinsam mit ihm freuen. Und wenn es doch erneut Grund zur Sorge geben sollte, würde sie nicht noch einmal allein dastehen, sondern er konnte ihre Hand halten und sie trösten.
Sie lächelte vor sich hin, freute sich an dem hellblauen Himmel, an dem allmählich die letzten Sterne verblassten, über den frischen Morgenwind und den fremdartigen Gesang von Vögeln, deren Namen und Gestalt sie noch kennenlernen musste. Dabei versuchte sie, sich Johns Gesicht vorzustellen, wenn sie ihm erzählte, dass er Vater wurde. Und als sie schließlich das Hotel erreicht hatte und durch
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