Haus des Glücks
und die Knochen einfach abzunagen, wie die Tiere. Sie sollten etwas trinken. So ist es gut. Geht es Ihnen besser?«
Victoria nickte und wagte kaum, ihren Blick zu heben, aus Furcht, den wissenden Augen des Doktors zu begegnen.
»Gott sei Dank!«, rief Paula aus. »Es wäre doch traurig, wenn Sie unser Krankenhaus gleich an Ihrem ersten Abend kennenlernen müssten.«
Victoria nickte und tupfte sich die Tränen aus dem Augenwinkel. Der Arzt ließ sie nicht aus den Augen. Vielleicht sollte sie einfach zurückstarren, damit er endlich aufhörte?
»Wir haben sogar eine Schule in Apia. Alwine Dohrn unterrichtet die Kinder.«
Wer war diese Frau Dohrn doch gleich noch mal? Bestimmt hatte Paula sie im Laufe dieses Abends erwähnt, aber Victoria hatte es bereits vergessen.
»Zu Hause wäre diese Konstellation natürlich undenkbar. Als Frau des Pfarrers hätte sie eigentlich andere Pflichten, als Lehrerin zu spielen. Aber hier kann man nicht unbedingt wählerisch sein. Außerdem ist Alwine eine wunderbare Frau. Und eine strenge Lehrerin. Sie lässt den Kindern keinen Unfug durchgehen, wie meine Söhne mir berichten. Aber das werden Sie unter Umständen bald selbst erfahren.«
»Paula, es reicht jetzt! Lass Victoria endlich in Ruhe essen«, sagte die Frau des Gouverneurs streng. Dann legte sie ihr eine Hand auf den Arm. »Verzeihen Sie meine Vertraulichkeit. Ich darf Sie doch Victoria nennen?«
Sie nickte.
»Ich bin Mechthild. Vergessen Sie einfach diese neugierige Schnatterliese. Neuankömmlingen gegenüber führt sie sich immer so auf. Aber sie ist eine gute Seele. Wenn eine von uns Hilfe braucht, ist Paula sofort zur Stelle. Außerdem ist sie überaus geschickt mit Nadel und Faden. Von der Leinenserviette angefangen bis zum Brautkleid gibt es nichts, was sie aus Stoff nicht zaubern könnte! Für meine kleine Elisabeth hat sie gerade erst ein Batistkleid genäht, mit dem man sich auch in Berlin sehen lassen könnte.«
Paula lächelte. »Hör auf, Mechthild, du bringst mich in Verlegenheit.«
»Ich übertreibe nicht, sondern sage nur, wie es ist. Paula ist unsere Schneiderin, Alwine Lehrerin. Klara leitet den Chor. Wenn Sie Probleme mit Ihrem Garten haben oder ein bestimmtes Gemüse anbauen wollen, können Sie sich an Hedwig wenden, und für Bäckereien aller Art ist Dorothee zuständig. Sie kennt Hunderte von Rezepten und hat immer eine Idee, um Zutaten, die man hier in Apia nicht bekommen kann, zu ersetzen. Wir sind eine kleine Gemeinschaft, und da ist es von großer Bedeutung, dass jeder seine Gaben zum Wohle aller einbringt.« Mechthild lächelte. »Vielleicht haben auch Sie ein besonderes Talent, von dem wir profitieren können?«
Victoria wurde es plötzlich heiß, ihre Wangen brannten. Was sollte sie auf diese Frage antworten? Was war ihre Gabe?
»So begabt wie die anderen Damen bin ich zu meinem Bedauern nicht«, gestand sie. »Ich habe lediglich geringfügige Kenntnisse in Medizin und Krankenpflege.«
Täuschte sie sich, oder rümpfte Paula die Nase?
»Seien Sie doch nicht so bescheiden! Das ist doch etwas!«, sagte Mechthild und tätschelte ihr den Arm. »Unser Doktor ist gewiss für Hilfe dankbar.«
Wieder wallte Hitze in Victoria empor. Diesmal jedoch vor Wut. Mochten die Damen über den Wert der Begabungen und Fähigkeiten denken, was sie wollten, aber sie musste nicht getröstet werden.
»Ich bin sicher, dass Sie sich schon bald wie zu Hause fühlen werden. Morgen kommen Sie zu mir zum Tee. Dann lernen Sie die anderen Damen näher kennen, nicht nur Paula. Auch Alwine, Hedwig, Klara, Frieda und Dorothee.«
»Das ist liebenswürdig von Ihnen«, sagte Victoria und wusste nicht, ob sie sich über die Einladung freuen sollte. Eigentlich hatte sie vorgehabt, sich morgen den ganzen Tag auszuruhen. Andererseits war sie hier fremd, und die Frau des Gouverneurs würde ihr alles erklären, was sie wissen musste.
»Nicht doch«, Mechthild winkte ab. »Es ist meine Pflicht und das Geringste, was ich für Sie tun kann.« Sie tätschelte Victorias Hand erneut. »Machen Sie sich keine Sorgen, Kindchen. Ich werde mich um Sie kümmern, damit Sie nicht in die falschen Hände fallen.«
»Danke«, erwiderte sie und erhaschte gerade noch einen Blick auf den Doktor, der sich seine Serviette auf den Mund presste. Hatte sie es sich nur eingebildet, oder verbarg er dahinter ein spöttisches Grinsen? Und wenn sie recht hatte, wem galt sein Spott? Ihr oder der Frau des Gouverneurs?
Die beiden Kellner, Einheimische, deren
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