Haus des Glücks
Abendwinds zu lauschen.
Sie lächelte der ihr gegenübersitzenden Dame zu und versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, dass sie in diesem Moment lieber woanders gewesen wäre.
»… aber das sage ich auch immer. Nicht wahr?«
»Du hast recht, meine Teure«, sagte die Ehefrau des Gouverneurs, die neben Victoria saß.
Die Dame an der Seite des Doktors, deren Namen sie vergessen hatte, redete schon den ganzen Abend ohne Unterbrechung auf sie ein. Anfangs hatte sie noch zugehört, doch mittlerweile konnte sie der Einführung in die Gesellschaft auf Samoa nicht mehr folgen. In ihrem Gehirn wirbelten die Namen, die Beziehungen zueinander und zu Deutschland sowie die unterschiedlichsten Tätigkeiten durcheinander. Die Angelegenheit wurde dadurch noch verschlimmert, dass der Arzt ebenfalls ihr gegenüber am Tisch saß. Seine grauen Augen schienen sie förmlich zu durchbohren. Bereits vor dem Hotel hatte sie den Eindruck gewonnen, dass er sie durchschaut und ihr Geheimnis erkannt hatte. Oder hatte er nur zufällig seine Unterstützung bei Geburten erwähnt? Aber wie war das möglich? Man konnte doch noch nicht sehen, dass sie ein Kind erwartete. Nicht einmal John hatte bisher etwas bemerkt, und er war immerhin ihr Ehemann. Andererseits war dieser Doktor von Kolle seit mindestens zwanzig Jahren oder noch länger Arzt. Vielleicht konnte man ihren Zustand mit solch langjähriger Erfahrung früher erkennen.
»Woher kommen Sie, Frau Seymour?«, fragte jetzt die unermüdliche Dame. Offenbar hatte sie ihr gesammeltes Wissen weitergegeben, und es verlangte sie nach neuen Informationen. »Ich glaube, der Gouverneur hat es vorhin in seiner Ansprache nicht erwähnt.«
»Aus Hamburg«, antwortete Victoria und wunderte sich, wie diese Dame ununterbrochen reden, zugleich ihren Teller leer essen und trotzdem die Tischmanieren einhalten konnte.
»Und was hat Sie hierher verschlagen, Frau Seymour?«
»Aber Paula!« Die Ehefrau des Gouverneurs schüttelte missbilligend den Kopf. »Sei nicht so indiskret. Außerdem hältst du die arme Frau vom Essen ab.« Dann wandte sie sich an Victoria. »Ich bitte Sie um Vergebung, Frau Seymour. Wir müssen in Ihren Augen geradezu unanständig neugierig erscheinen. Aber unsere Gemeinschaft ist nicht sehr groß und von der Zivilisation abgeschnitten. Da stürzt man sich auf jede Neuigkeit wie ein Rudel ausgehungerter Löwen.«
»Sie können mir gern Fragen stellen«, erwiderte Victoria und lächelte. »Es ist doch nur natürlich.«
»Siehst du, Mechthild!« Paula warf der Frau des Gouverneurs einen triumphierenden Blick zu. »Also, was hat Sie und Ihren Mann hierher verschlagen?«
»Wir sind geschäftlich hier.« Sie war nicht gewillt, hier am Tisch am ersten Abend ihre ganze Lebensgeschichte vor den Damen auszubreiten.
»Stammen Sie aus einer Kaufmannsfamilie?«
»Mütterlicherseits. Mein Vater ist Arzt. Aber meine Schwiegereltern sind Kaufleute.«
»Und welcher Natur sind die Geschäfte, die Sie und Ihr Gatte hier tätigen wollen?«
»Es geht um Kopra. Mein Mann hat den Auftrag, eine Handelsniederlassung auf Samoa zu gründen.«
»Dann wünsche ich Ihnen von ganzem Herzen viel Glück. Sie und Ihr Mann sind so ein reizendes, junges Ehepaar«, fuhr diese Paula fort und lächelte liebenswürdig. »Wie lange sind Sie denn schon verheiratet?«
»Etwas über ein Jahr«, erwiderte Victoria und schob sich ein Stück Schweinebraten in den Mund, um zu signalisieren, dass sie in der nächsten Zeit keine ausführlichere Antwort geben konnte.
»Oh, dann wird doch gewiss bald Nachwuchs kommen.« Paula strahlte über das ganze Gesicht, als könnte sie die Kinder bereits herumlaufen sehen. »Der Gouverneur hat es natürlich vorhin nicht erwähnt – Männer denken an die wichtigen Dinge doch immer zuletzt. Aber die einheimischen Frauen sind ausgezeichnete Kindermädchen. Manche von ihnen sprechen sogar Deutsch. Wenn Sie möchten, kann ich Ihnen eine Empfehlung geben, wenn es so weit ist.«
Victoria verschluckte sich und musste husten. Sie presste sich die Leinenserviette vor den Mund, ihre Wangen brannten vor Scham. Erst der Doktor, jetzt diese unsägliche Frau! War ihr Zustand bereits so augenfällig?
»Aber, aber Kindchen!« Die Frau des Gouverneurs klopfte ihr auf den Rücken. »Ist alles in Ordnung? Es war doch hoffentlich kein Knochensplitter? Die Einheimischen sind beim Entbeinen nicht immer gewissenhaft. Es kommt vielleicht daher, dass sie es gewohnt sind, das Fleisch mit den Händen zu essen
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