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Haus des Glücks

Haus des Glücks

Titel: Haus des Glücks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yvonne Winkler
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sich um. Die Fenster in dem Geschäft gegenüber, das sich einfach
Petersens Kaufhaus
nannte und neben Haushalts- und Eisenwaren auch Damen-, Herren- und Kinderbekleidung führte, waren dunkel. Dahinter erhob sich weiß der Kirchturm der protestantischen Kirche von Apia. Die Turmuhr zeigte Viertel nach fünf. Irgendwo bellte ein Hund, ein Fensterladen wurde geöffnet. Hinter den letzten beiden weißen Häusern linker Hand sah sie den Hafen, die Masten der Segler und den Schornstein der
Lübeck.
Dahinter lag das azurblaue Meer, dessen sanfte Brandung sie hören konnte. Das Rathaus befand sich auf der anderen Seite am Ende der Straße. Am Haus daneben hing ein Schild, auf dem ein Äskulapstab zu sehen war. Dort musste sie hin. Der Nachtportier hatte nicht zu viel versprochen, es war nicht weit, das würde sie schaffen.
    Trotzdem war jeder einzelne Schritt eine Qual. Wenn Doktor von Kolle ihr eröffnete, dass sie das Kind verlor? Eigentlich wollte sie nicht daran denken, aber diese schreckliche Vorstellung setzte sich in ihrem Kopf fest, als hätte sie Widerhaken. Und als sie endlich vor der Tür der Arztpraxis stand, pochte die Angst in jeder Zelle ihres Körpers. Sie betrachtete die Messingglocke neben der Tür und zögerte. Sollte sie läuten? In der Stille des Morgens würde es gewiss die ganze Stadt hören und aufwachen. Also klopfte sie an die Tür und wartete. Als nichts geschah, klopfte sie noch einmal, diesmal drängender. Ein Fenster öffnete sich quietschend über ihr, und der verstrubbelte grauhaarige Kopf des Doktors schaute heraus.
    »Was ist?« Seine Stimme klang unwirsch. Natürlich. Niemand freute sich darüber, in der Frühe geweckt zu werden. Das galt auch für einen Arzt.
    Sie trat einen Schritt zurück, damit er sie sehen konnte. »Verzeihen Sie die Störung, Herr Doktor.«
    »Aber das ist doch …« Er fuhr sich durch das Haar. »Einen Moment, ich komme.«
    Das Fenster über ihr schloss sich, und wenig später sah sie durch die Fensterscheibe in der Tür einen Lichtschein im Haus umherschwanken.
    »Frau Seymour! Treten Sie ein.«
    Doktor von Kolle war unrasiert, sein drahtiges Haar zerzaust. Doch sein Hemd steckte ordentlich in der Hose, und die Hosenträger saßen ebenso korrekt wie die Brille, in deren Gläsern sich das Licht der Öllampe spiegelte. Auch Doktor von Kolle war ein Mann, der es gewohnt war, sich zu jeder beliebigen Tageszeit in Windeseile anzukleiden. Wie ihr Vater.
    »Entschuldigen Sie die frühe Störung«, wiederholte sie und nestelte nervös an ihrem Kleid. »Ich wollte …«
    »Geht es Ihnen nicht gut? Oder ist es Ihr Mann?«
    »Es geht um mich«, sagte sie. »Ich habe Schmerzen. Bauchschmerzen. Und seit heute früh Blutungen.«
    Kein Spott, keine anzügliche Bemerkung, nicht einmal Überraschung, Interesse oder Neugierde. Nur ein kurzes, emotionsloses Nicken. Das Nicken eines Arztes, der vom ersten Blick und Händedruck an Informationen sammelte, die er für die Behandlung seines Patienten brauchte.
    »Kommen Sie mit.« Er nahm sie am Arm und führte sie in sein Behandlungszimmer. Er deutete auf einen Paravent und wusch sich die Hände. »Ziehen Sie sich bitte aus. Wie weit sind Sie?«
    »Ich kann es nicht genau sagen«, erklärte sie, während sie ihr Kleid auszog. »Das war noch in Hamburg, da haben wir …«, sie errötete, »… muss es passiert sein, und das ist etwas über vier Monate her.«
    »Gut. Kommen Sie vor, wenn Sie fertig sind, und legen Sie sich hier hin.«
    Mit heftig klopfendem Herzen legte Victoria sich auf die Liege. Tränen traten ihr in die Augen. Gleich würde er es ihr sagen, gleich waren ihre Hoffnungen dahin!
    »Sie müssen sich entspannen, Frau Seymour, sonst kann ich Sie nicht untersuchen!«
    Entspannen? Wie sollte sie das anstellen, wo ihr vor lauter Angst die Zähne klapperten? Er hatte gut reden. Er war es schließlich nicht, der sein geliebtes Kind verlor! Trotzdem versuchte sie es, sie gab sich Mühe, ruhig und tief zu atmen.
    »Na bitte, geht doch«, murmelte er, und tastete ihren Bauch ab.
    Der Doktor mochte schroff sein, aber seine Hände waren behutsam.
    »Spüren Sie die Bewegungen des Kindes?«, fragte er.
    Sie nickte und presste die Lippen aufeinander, um nicht zu weinen.
    »Auch jetzt?«
    »Ja.«
    Er untersuchte sie weiter, schweigend und mit ernstem Gesicht, tastete ab, hielt ein Hörrohr an ihren Bauch, fühlte erneut. Dann endlich war er fertig. Er sah sie an und lächelte. »Ich kann Sie beruhigen, Frau Seymour«, sagte er und

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