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Haus Ohne Hüter

Haus Ohne Hüter

Titel: Haus Ohne Hüter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Böl
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Treppe
    hinuntergingen.
    »Es hätte wenig Zweck gehabt«, sagte sie. Er blickte zu ihr auf, und seine alberne Gekränktheit reizte sie noch mehr.
    »Seit zehn Jahren lese ich keinen Brief mehr, sie fliegen alle ungeöffnet in den Müllkasten.«
    An der Tür ließ sie ihn stehen, gab nur dem Pater die Hand und sagte: »Nein,
    ich muß nach Hause, mir ist nicht wohl..., rufen Sie mich an, wenn Sie wollen, aber nennen Sie ihren Namen nicht am Telefon. Hören Sie: nicht Ihren Namen nennen.« »Was ist denn los, liebe Nella?«
    »Nichts«, sagte sie, »ich kann nicht mehr, ich bin so müde.« »Am nächsten
    Freitag hätten wir dich gerne in Brernich gehabt, wo Herr Gäseler ein Referat hält...«
    »Rufen Sie mich an, wenn Sie wollen«, sagte sie, ließ die beiden Männer stehen und lief schnell weg.
    Endlich war sie aus dem Bereich der hellen Lichter heraus und konnte in die
    dunkle Straße einbiegen, wo Luigis Eissalon lag. Hier hatte sie Hunderte Male mit Rai gesessen, und es war der am besten geeignete Ort, den Film zurechtzuflicken, die Streifen, die Träume geworden waren, einzuhängen in die Zähne der Kurbelwelle. Licht aus und auf den Knopf gedrückt, und der Traum, der dazu bestimmt gewesen war, Wirklichkeit zu werden, flimmerte über das Hirn hin.
    Luigi lächelte ihr zu und griff sofort zu der Schallplatte, die er immer
    auflegte, wenn sie hereinkam: wilde und sentimentale Primitivität, hektisch und ergreifend, und lauernd wartete sie auf die Stelle, wo die Melodie ausklinkte und ratternd in unabsehbar tiefe Abgründe sank, während sie beharrlich das erste Viertel des Films, das kein Traum gewesen war, ablaufen
    Mauerwerk in Form eines Hahns ausgespart und in grellen Farben verglast:
    grün wie die Heide und rot wie Granatäpfel, gelb wie die Flaggen an Munitionszügen, schwarz wie Kohle Ȭ und der Zettel, den der Hahn im Schnabel hielt: so groß wie vier Ziegelsteine, schneeweiß verglast und rot beschriftet: »Hähnels 144 Sorten Eis«. Längst wieder war der Hahn wie früher und warf sein buntes Licht über die Gesichter der Sitzenden, über die Bar, bis weit in die hinterste Ecke auch auf sie, die ihre Hand Ȭ tödlich gelb gefärbt Ȭ wie damals auf dem Tisch liegen sah, und Szene 1 war fällig.
    Ein junger Mann kam an ihren Tisch, dunkelgrau fiel sein Schatten über ihre Hand, und sagte, noch bevor sie zu ihm hatte aufsehen können: Ziehen Sie das braune Jäckchen aus, es paßt nicht zu ihnen. Da stand er schon hinter ihr, hob ruhig ihre Arme und streifte ihr die braune Hitlerjugendjacke ab. Er warf die Jacke auf die Erde, schob sie mit dem Fuß in die Ecke des Eissalons und setzte sich neben sie. Natürlich bin ich ihnen eine Erklärung schuldig Ȭ und noch immer konnte sie ihn nicht ansehen, denn ein zweiter grauer Schatten fiel über ihre Hand, die von der Brust des Hahns her knallig gelb gefärbt war. Ziehen Sie nie mehr das Ding an, es paßt nicht zu Ihnen. Später tanzte sie mit dem, der zuerst gekommen war, vorne, wo vor der Theke ein wenig Platz war, und sie konnte ihn genau ansehen: merkwürdig in dem lachenden Gesicht die blauen Augen, die ernst blieben, über ihre Schulter hinweg auf etwas sehr Entferntes zu blicken schienen. Er tanzte mit ihr, fast als tanzte er allein, nur leicht berührten seine Hände sie, leichte Hände, die sie später, wenn er neben ihr schlief, oft nahm und auf ihr Gesicht legte. Hellgraue Nächte, in denen sein Haar nicht mehr schwarz, sondern hellgrau erschien wie das Licht, das von draußen kam, und sie lauschte ängstlich auf seinen Atem, der nie zu hören war, kaum zu spüren auch, wenn sie die Hand vor seinen Mund hielt. Ein Leben ohne Ballast hatte begonnen in dem Augenblick, da der dunkelgraue Schatten auf ihre gelbgefärbte Hand fiel. Die braune Hitlerjugendjacke blieb in der Ecke des Eissalons liegen. Gelber Fleck auf der Hand, so wie sie auch vor zwanzig Jahren gelb gewesen war. Sie fand die Gedichte schön, weil er es war, der sie schrieb; viel wichtiger aber als diese Gedichte war er, der sie so gleichgültig vorlas. Alles war so leicht für ihn, so selbstverständlich; sogar die
    Einberufung, vor der er sich fürchtete, konnte hinausgeschoben werden, aber
    es blieb die Erinnerung an die beiden Tage, wo er draußen in der Kasematte geschlagen worden war. Düstere feuchte Gewölbe aus dem Jahre 1876, in denen jetzt ein findiger kleiner Franzose eine Champignonzucht betrieb: Blut Ȭ flecken auf dem schwärzlich feuchten Beton, Bier und das Rülpsen der

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