Haus Ohne Hüter
SA Ȭ Leute, dumpfer Gesang wie aus einem Grab, das Erbrochene an den Wänden, auf den Fluren, wo jetzt auf Pferdedung weißliche, krank aussehende Pilze gediehen, und oben auf dem Dach der Kasematte jetzt die herrliche, grüne Rasenschicht, das Rosenbeet, wo Kinder spielten und strickende Mütter »Gib acht« riefen und »Sei nicht so wild« Ȭ wo Rentner verdrießlich ihren Tabak in der Pfeife zerkrümelten, zwei Meter über dem dumpfen Grab, wo Rai mit Albert zwei Tage lang Todesangst ausgestanden hatte. Hoppe Ȭ Hoppe Ȭ Reiter spielende Väter mit Feierabendgesichtern, Bonbons spendende Opas, der Springbrunnen und die Rufe:»Geh nicht zu nah ran«, und der alte Wärter, der morgens rundging, um die Spuren nächtlicher Ausschweifungen der Vorstadtjugend zu beseitigen: mit Lippenstift bekleckerte Papiertaschentücher und die im Mondschein mit Ästen auf den Boden geschriebenen Synonyme für Liebe. Frühaufsteher unter den Rentnern, zappelige Greise, die im Sommer früh kamen, um die Ausbeute des Wärters zu sehen, bevor sie im Kehrichteimer verschwand: Kichern über bunten Papiertüchern und die wilde, rote Farbe abgewischten Lippenstiftes. Wir waren ja auch einmal jung.
Und darunter das Grab, in dem jetzt Champignons wuchsen, wimmelnd
weißlich über bräunlichem Mist und gelbem Stroh, wo Absalom Billig als erster Jude der Stadt ermordet wurde: schwarzer, lächelnder Junge, dessen Hände so leicht waren wie Rais Hände; zeichnen konnte er, wie kein zweiter hatte zeichnen können. Blockwarte und SA Ȭ Leute konnte er zeichnen:
»Deutsch bis ins Mark « Ȭ und die SA Ȭ Leute Deutsch bis ins Mark zertrampelten
ihn dort unten in der Gruft. Eine neue Schallplatte, Huldigung des kleinen, schwarzen Barmanns an ihre blonde Schönheit. Sie schob die Hand auf dem Tisch ein wenig hinüber, wo sie im Licht des roten Halsgefieders lag: Zwei Jahre später hatte ihre Hand dort gelegen an dem Tag, als Rai ihr erzählte, daß Absalom Billig ermordet worden war: eine hagere kleine Jüdin, Absaloms
Wohnung nach Lissabon telefonierte, nach Mexiko City, alle Schiffahrtslinien anrief Ȭ und immer an der Hand den kleinen Wilhelm Billig, der in Verehrung für den Kaiser Wilhelm so benannt worden war. Die Überraschung: Hinten in Argentinien hatte jemand den Hörer in der Hand und sprach mit Frau Billig: Visum, Devisen...
Als Drucksache zwei Nummern des Völkischen Beobachters, die mit zwanzig Tausendmarkscheinen nach Argentinien gingen. Rai und Albert wurden Zeichner in Papas Marmeladenfabrik. Champignons gediehen jetzt dort. Kinder spielten, Mütter riefen »Gib acht« und »Sei nicht so wild« und »Geh nicht so nah ran«, wenn der Springbrunnen lief, und die Rosen blühten, so rot, wie ihre Hand jetzt blühte, die im Licht des roten Halsgefieders lag, des Halsgefieders von Hähnels Wappenhahn. Weiter lief der Film, und Rais Hand wurde schwerer, hörbar sein Atem, er lachte nicht mehr, und es kam eine Karte von Frau Billig: »Vielen Dank für die Grüße aus der teuren Heimat.« Und eine zweite Drucksache ging weg, zwei Nummern des Stürmer, mit zehn Tausendmarkscheinen. Albert ging nach London, und aus London kam bald die Nachricht, daß er geheiratet hatte, ein verrücktes und bildschönes Mädchen, wild und fromm, und Rai blieb Zeichner und Statistiker in Papas Fabrik. Was können wir für unsere neue Sorte tun? Holsteges billiges Erdbeergelee. Tintenblaues Bauchgefieder des Hahns, während der Film weiterlief: grau und ruhig, müde Dramaturgie Ȭ bis in London das verrückte und bildschöne Mädchen starb und monatelang von Albert keine Nachricht kam, und sie schrieb Briefe, die er ihr jetzt manchmal vorwarf: »Komm zurück, Rai lacht nicht mehr, seit du weg bist...«
Grau und dunkel wurde der Film, raffiniertes Licht, das Spannung verhieß. Albert kam zurück, Krieg kam: Geruch der Kasernenkantinen, ausverkaufte Hotels, in den Kirchen wurde inbrünstig fürs Vaterland gebetet. Kein Quartier zu finden, und die acht Stunden Urlaub waren bald herum, noch bevor die Umarmung vollzogen war: Umarmungen auf Plüschsofas, auf dunkelbrauner Couch und in den dreckigen Betten billiger Ab Ȭ steigequartiere, deren Zeit gekommen war: Stiefelschmiere auf Bettüchern. Scheppernde Klingeln und ein schlechtes Frühstück im Morgengrauen, während die hagere Matrone das Schild wieder ins Fen Ȭ
ster stellte: Zimmer frei. Pappschild zwischen Gardine und Fenster
eingezwängt und die grinsend geäußerte Weisheit der Kupplerin, als Rai über
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