Hausbock
definieren«, sagte Baisler. »Aber in der Tat haben wir
hier ein phantastisches Beispiel für die Kombination von Alt und Neu. Der Architekt
hat die Rückseite mit einer neuen Wand aus Beton abgeschirmt, mit viel Glas und
Stahl.«
»Alles so schön bunt hier!«, kommentierte Morgenstern.
Baisler sah ihn tadelnd an. »So originell, wie Sie denken, ist dieser
Spruch gar nicht, Herr Kommissar. Ein Stück weiter stadteinwärts steht der
schon seit fünfundzwanzig Jahren als Graffito auf einer Betonwand, die übrigens
vom selben Architekten stammt. Der Spruch ist nie entfernt worden, er blieb
über all die Jahre stehen wie ein Menetekel.«
»Ein was?«, fragte Morgenstern.
»Ein Menetekel, eine alttestamentarische Mahnschrift an der Wand.«
Als würde das dem begriffsstutzigen Kommissar auf die Sprünge helfen können,
zitierte der Baumeister den Beginn einer Ballade: »›Die Mitternacht zog näher
schon, in stummer Ruh lag Babylon.‹«
Morgenstern sah Baisler verständnislos an. Doch zu seiner großen
Überraschung führte Peter Hecht das Gedicht nahtlos weiter: »›Nur oben in des
Königs Schloss, da flackert’s, da lärmt des Königs Tross.‹«
Baisler nickte wohlwollend. »Wie auch immer. Rupert Ledermann war
auch für das neu gestaltete Waisenhaus nicht zu begeistern. Er war eine harte
Nuss. Ein Mann mit klaren Vorstellungen, auch bei der Denkmalpflege. Er hat
sich sehr, sehr intensiv damit auseinandergesetzt. Er hatte sich sogar
vorgenommen, nach seiner Pensionierung in Nürnberg Kunstgeschichte zu
studieren. Davon hat er mir immer vorgeschwärmt.« In Baislers Augen entstand
ein verdächtiges Glänzen, rasch wischte er sich mit dem Ärmel seines schwarzen
Rollkragenpullovers eine Träne weg.
»Er war ja auch Mitglied im Jurahaus-Verein«, sagte Morgenstern.
»Wir haben erst gestern mit dem Vorsitzenden gesprochen.«
»Mitglied war er, ja. Allerdings ein unzufriedenes Mitglied. Der
Verein in seiner heutigen Form war ihm zu weich, der ganze Ansatz zu
pädagogisch.«
»Aber er hat doch eifrig mitgemacht«, sagte Hecht. »Er wollte seine
Mühle als gelungenes Vorbild für eine Sanierung präsentieren.«
»Stimmt alles. Aber ich verrate Ihnen jetzt etwas: Rupert Ledermann
wollte seinen eigenen Verein gründen. Er hatte im Stillen schon alles
vorbereitet.«
»Seinen eigenen Verein?«, fragten Morgenstern und Hecht wie aus
einem Mund.
Baisler nickte, nahm seinen angeknabberten Bleistift in beide Hände
und brach ihn mit einem kurzen Knacks in der Mitte durch. Versonnen blickte er
auf die beiden Teile.
»Er wollte seine eigene Organisation zur Rettung der letzten
Jurahäuser aufziehen. Er wollte die Sache nach Rupert-Art anpacken. Mit
eisernem Besen kehren, das war seine liebste Formulierung.«
»Wie sollen wir uns das vorstellen?«, fragte Morgenstern. »Diese
Rupert-Art?«
»Ich denke, er hätte alle juristischen Hebel in Bewegung gesetzt, um
Hausbesitzern und Gemeinden Beine zu machen. Er wäre jedem einzelnen
Bürgermeister und dem Landesamt für Denkmalpflege auf die Füße getreten. Er
hätte vermutlich eine Prozesslawine in Gang gesetzt. So hat er das mir
gegenüber einmal angedeutet.«
»Haben Sie ihm abgeraten?«, fragte Hecht.
»Selbstverständlich. Aber er wollte das nicht hören.«
»Wann wollte Rupert Ledermann bekannt geben, dass er seinen eigenen
Verein gründet?«, fragte Morgenstern.
Die Antwort kam umgehend: »An seinem Tag der offenen Tür, gestern
Abend. Er hielt das für den optimalen Zeitpunkt und vor allem für den idealen
Rahmen. Deswegen wollte er auch die Presse einladen. Das hat er mir vor einiger
Zeit am Telefon erzählt.«
»Hat sich Herr Ledermann Ihnen gegenüber in letzter Zeit anders als
sonst verhalten?«, fragte Morgenstern weiter. »Wann haben Sie ihn zuletzt
getroffen?«
Baisler dachte nach. »Erst in der vergangenen Woche«, entsann er
sich. »Ganz überraschend, auch ungewöhnlich.« Er stand auf, ging zu dem
hölzernen Stehpult, das auf der anderen Seite des Büros stand, und blätterte in
einem Wochenkalender. Mit dem Kalender in der Hand kehrte er an den
Besprechungstisch zurück.
»Das war am Montag vor einer Woche. Am Spätnachmittag. Er platzte
mitten in eine Besprechung.« Baisler tippte auf einen Termin im Kalender. »Weil
ich keine Zeit hatte, wartete er draußen vor der Tür, im Flur. Eine halbe
Stunde lang. Das war völlig untypisch für ihn. Ich kann mich nicht erinnern,
dass er jemals zuvor bei mir im Rathaus gewesen war. Er besuchte mich
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