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Hausers Zimmer - Roman

Hausers Zimmer - Roman

Titel: Hausers Zimmer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Main> Schöffling & Co. <Frankfurt
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und den Glitzervorhang der Peepshow. Natürlich blieb er keine Sekunde ruhig. Schon wehte er wieder bis weit auf den Bürgersteig; ein beleibter Herr im Dreiteiler trat mit gesenktem Kopf auf die Straße und vertiefte sich augenblicklich in seinen Taschenkalender. Fast zeitgleich, nur ungleich selbstbewusster, sprang eine korpulente Ratte hinter den bunten Glitzerstreifen hervor. Und stolzierte zu Domingo . Dann schlüpften zwei junge Männer mit Pudelmützen und Wollhandschuhen hinein. Wenn man nicht wusste, was sich hinter diesem Vorhang verbarg, hätte man denken können, die beiden wollten sich nur ein bisschen aufwärmen. Noch im Eingangsbereich streiften sie ihre Fäustlinge ab und pusteten sich auf die kalten, steifen Finger. Aus irgendeinem Auto hörte ich Buenos Dias, Argentina . Gesungen von Udo Jürgens.

Ku’dammladys – Rascheln und Knistern
    Die Haltestelle des Busses, mit dem wir zur Schule fuhren, befand sich auf dem Ku’damm gegenüber der alten Verkehrskanzel. Diese merkwürdige Kanzel hatte etwas von einem Hochsitz. Vor meiner Geburt hatte dort oben, über dem Verkehr, ein Polizist gethront und die Ampel per Schaltknopf bedient. Es muss ausgesprochen unangenehm gewesen sein, diesen schwebenden Beobachter da über sich zu wisse n – über all dem einkaufenden, plaudernden, nasebohrenden, ahnungslosen Volk. Dass die Kanzel irgendwann nicht mehr benutzt wurde, fand, wie mir schien, jeder, der sich an die Zeiten noch erinnern konnte, erleichternd. Da waren sich trotz ihrer sonstigen Meinungsverschiedenheiten alle Altmieter, also Herr Wiedemann, die Pechs, Frau Koderitz, Herr Olk und Herr Kanz, einig. Wiebke und Klaus, Hülsenbecks (Isa und ihre Mutter) und Klügers (Fiona und ihre Mutter Anna) waren erst später eingezogen, aber auch sie hätten etwas dagegen gehabt. Damals regte sich jeder über solche Wachtürmchen auf. Gelegentlich hatte es schon Berichte über die Volkszählung gegeben, die verschoben worden war und später zu vielen Protestaktionen führen sollte. Von digitalen Fingerabdrücken und Überwachungskameras auf Schritt und Tritt war noch nicht die Rede, nein, schon eine Volkszählung wurde als unzulässige Einmischung des Staats empfunden. Gib mir deinen Pass und ich sage dir wer du bist stand seit letztem Jahr bei uns an der Schulhofmauer. Und Gregor aus der 13 . Klasse, der beim Sprayen gesehen worden war, wurde von keinem Lehrer deshalb zur Verantwortung gezogen.
    Heute saßen bei minus neun Grad zwei Mädchen mit knappen pinkfarbenen Röckchen und Strumpfhosen unter der leeren Polizeikanzel, die inzwischen unter Denkmalschutz stand. Während sie früher eine Schutzfunktion ausüben sollte, war sie nun selber schutzbedürftig.
    Die Mädchen hatten dunkle Augenringe und eingerissene Mundwinkel, in denen sich das Lilarot ihres Lippenstifts verlief. Vor sieben Jahren war Christiane F.s Wir Kinder vom Bahnhof Zoo ein Skandal gewesen; überall in Deutschland sah man unseren alten Bahnhof im Fernsehen, und Oma Helene rief aufgeregt an. Auch die Rund-Oma, also die Oma väterlicherseits, und andere Verwandte, die ich nie richtig auseinanderhalten konnte, weil wir sie so selten besuchten und sie nie nach Berlin kamen, riefen an. Als Falk die hysterische Sorge um uns besonders nervte, meldete er sich einmal mit »Strichjunge Pepe, wie kann ich Ihnen zu Diensten sein?« am Telefon. Dieser Skandal löste in unserer Verwandtschaft den Christiane-F.-Skandal ab. Irgendwann verebbte natürlich der eine wie der andere. Der Bahnhof Zoo blieb, wie er war, nur regte sich niemand mehr über ihn auf, seitdem die Medien sich anderen Themen zugewandt hatten.
    Wir stapften träge weiter zur Bushaltestelle. Diese Trägheit war etwas spezifisch Berlinerisches. Während man von anderen Großstädten zu sagen pflegt, dass das Tempo in ihnen höher sei als in anderen Städten des Lande s – wie in London oder New Yor k –, war in Berlin alles langsam, wie auf Drogen, aber nicht auf Speed, sondern eher unter Hanfeinfluss. Vielleicht hatte dies auch mit der geopolitischen Lage Berlins zu tun, möglicherweise führte das Sackgassengefühl zu einer besonderen Art von Trägheit. Das Innenleben vieler Bewohner schien aber wie zum Ausgleich höchst unruhig, oft auch aggressiv zu sein. Erst viele Jahre später realisierte ich mit retrospektivem Schreck, in was für einer verrückten, scheinbar normalen Zeit ich aufgewachsen bin. Und was alles für normal gehalten wurde. Zum Beispiel in einer geteilten Stadt zu

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