Hausers Zimmer - Roman
Ein Warnblinken war da s – Hab Acht! Halt Abstand ! –, keine Verführung.
Langsam schaukelte der Bus weiter den Ku’damm entlang. Eine Busspur gab es nicht. Wenn der Verkehr sich im Schritttempo bewegte, waren die Fußgänger schneller als wir. Am Olivaer Platz stiegen ein Penner und eine weitere Ku’dammlady ein und setzten sich in weitem Abstand voneinander hin. Beide stellten eine Unmenge Plastiktüten zu ihren Füßen ab. Die eine Tütensorte knisterte, aus der anderen gluckste es. Dieses Glucksen war der Missklang, der in dem akustischen Portrait der Welt das hektisch-irre Knistern untermalte und schließlich übertönte.
Hier und da grüßten mich an den Häuserwänden ein paar Üs. Grün, blau, grün. Neben einer Eisdiele, wo das Eis nicht schmeckte und manchmal Klassenkameraden von uns auftauchten, auch ein gelbes Warn-Ü. Am Adenauerplatz hatte jemand unsere Üs, die er wohl als Smileys fehlgedeutet hatte, entschlossen übersprayt mit Es ist deutsc h – in Kaltland .
Als der Bus vom Adenauerplatz aus weiterzuckelte, fragte Fiona: »Und wie war Weihnachten so bei euch?« Fiona war mit Anna wie jedes Jahr auf einer griechischen Insel gewesen. Isa erzählte von ihren Feiertagen, die sie zwischen ihren geschiedenen Eltern aufteilen musste. Immerhin: Sie hatte ein neues Fahrrad und Rollerskates bekommen. Isas neuer Anorak war mir auch schon aufgefallen. Isa und Fiona waren beide Scheidungskinde r – diesen Begriff sprachen Wiebke und Klaus stets voller Mitleid aus. »Waisenkinder« klang auch nicht trauriger bei ihnen. Und obendrein waren Isa und Fiona beide Einzelkinder! Der Begriff Einzelkind war damals beinahe ein Synonym für »verhaltensgestört«. Wenn man aber weder ein Scheidungs- noch ein Einzelkind und trotzdem merkwürdig war, musste erst recht etwas mit einem nicht stimmen.
Mit Unbehagen dachte ich an das Weihnachtsfest in unserer intakten Famili e – Vater, Mutter, Kind, Kind und ganz viel Kunst. Wenn der Bus in diesem Tempo weiterfuhr, hatte ich bis zur Schule genug Zeit, um die ganze unerfreuliche Geschichte zu erzählen.
Ich begann meinen Bericht mit dem Desaster mit der neuen Installation eines norwegischen Environment Artist, die meine Eltern sich, wie sie sagten, »gegenseitig« zu Weihnachten geschenkt hatten: The Wiebkes and the Klauses hatten wieder jemanden über eine Organisation, die Obdachlose an Feiertagen bei Gastgebern unterbrachte, eingeladen (Erwin und Karl, »unsere« Obdachlosen, wollten auch kommen, waren an dem Abend aber unauffindbar). Wie immer war die Atmosphäre etwas steif. Klaus berlinerte angestrengt, was die Stimmung nicht auflockerte. Auch fiel er dabei ständig aus seiner Rolle, was Arne, dem Gastpenner, nicht zu entgehen schien. Mit großem Engagement versuchte Klaus noch, Arne das »Meisterwerk des norwegischen Environment Artist« nahezubringen. Klaus hatte das aus unendlich vielen Schellen, Glöckchen, Pfeifen, Tröten und Rasseln bestehende Teil von der Größe eines mächtigen Kronleuchters mit Falks Hilfe zunächst erfolgreich an einem Haken an der Decke unseres Berliner Zimmers befestigt und dann eines der vielen Glöckchen angestoßen. Das Besondere an der Installation bestand darin, das s – egal an welchem Teil man sie berührt e – wie bei einem Dominospiel nacheinander alle Einzelteile in Bewegung gerieten und sich s o – aufgrund der variablen Reihenfolg e – eine immer neue Klangsinfonie ergab. Und dann passierte das Desaster: Klaus setzte das Wunderding in Gang, und, tatsächlich, im nächsten Moment ging ein wildes Geläute, Geklingel und Gerassel über uns los. Es begann mit tiefen und hellen Tönen, metallische und sanft glucksende folgten, dann erklang ein stakkatohaftes Puffen und Pfeifen und langgezogenes Heulen und Rauschen. Auf Klaus’ Gesicht spiegelte sich helle Freude. Dann sah er uns alle der Reihe nach an, auch Arne: »Das wird ein ganz besonderes Weihnachten, ein unvergessliches Erlebnis.«
Wir lauschten fasziniert. Unser Gast stellte sich direkt unter den Apparat und blickte mit offenem Mund nach oben. Wegen des Geknarzes, Geklirres und Geklingels hörten wir nicht, wie sich der Haken oben langsam löste. Im nächsten Moment ging die Installation mit gewaltigem Getöse zu Boden.
Wir blieben wie paralysiert stehen. Endlich löste sich Wiebke aus ihrer Starre und rannte zu unserem Gast, der unter der abgestürzten Installation lag, die mit ihren vielen, in alle Richtungen weisenden Streben etwas von einer verunglückten
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