Hausers Zimmer - Roman
Ku’damm hoch zu unserem Gymnasium. Interessanter als die tägliche Busfahr t – da dösten wir meist hinten auf dem Oberdec k – fanden wir den Weg zur Haltestelle an der großen Peepshow vorbei. Im Eingangsbereich hing ein Glitzervorhang aus Plastikstreifen, die ständig miteinander verklebten und dicke Knäuel bildeten. Hin und wieder trat eine leicht bekleidete, stark geschminkte und schlecht gelaunte Frau auf die Straße, um diese Knäuel auseinanderzuklamüsern.
Jeden Tag beobachteten Isa, Fiona und ich die Männer, die hinter diesem Glitzervorhang auf die Straße traten, und die, die eben noch scheinbar zielstrebig zum Ku’damm zu laufen schienen, plötzlich einen rechten Winkel einschlugen und in der Peepshow verschwanden. Wir kamen im Laufe der Monate zu dem Ergebnis, dass es keinen Typ von Männern gab, der nicht in die Peepshow ging. Banker, Gammler, Musketiere, Softies, Rocker, Popper, Rentner, junge Männer, nur ein paar Jahre älter als wir, Familienväter, Männer in Rudeln oder einsame Wölf e – alle schoben sie ihre Köpfe ängstlich aus dem flatternden Glitzervorhang, um sich dann, noch einmal den Hosenschlitz zurechtrückend, mit sichtlicher Erleichterung endlich dem Vorwärts-vorwärts der Stadtmenschheit zu überlassen. Mehr als einmal hatten wir beobachtet, wie einer von ihnen den Kopf aus dem Vorhang streckte, rasch nach links und nach rechts auf die belebte Uhlandstraße guckte, um sofort wieder in der Peepshow zu verschwinden. Wir malten uns dann aus, wen derjenige wohl gerade entdeck t – oder herbeihalluzinier t – haben könnte.
Es gibt die Peepshow noch, und sie hat ihre Werbeplakate bis heute nicht ausgewechselt. Offenbar ist es nicht nötig, über ein neues Marketing nachzudenken. Doch die Peepshowbesucher sind nicht mehr so schamvoll, so verklemmt wie damals. Den Glitzervorhang, die scheuen Blicke gibt es nicht mehr. Seit einigen Jahren steht die Venus Internationale Fachmess e – umgangssprachlich die Sex- oder die Erotikmess e – selbstverständlich im Veranstaltungskalender der Stadt Berlin neben der Grünen Woche , der bautec oder dem art forum .
Eines Tages, wenn wir groß sind, nahmen wir uns vor, gehen wir auch irgendwie mal in die Peepshow. Irgendwie war eines unserer Lieblingsworte. Denn so viele s – fast alle s – war noch irgendwie in unseren Leben.
Heute war es derart kalt, dass wir die Reißverschlüsse unserer Anoraks bis zum Kinn geschlossen hielten. Aus unseren Mündern stiegen Atemfahnen auf. Mit hochgezogenen Schultern hasteten wir die Uhlandstraße entlang. Auf beiden Seiten des Bürgersteigs türmten sich dreckige Schneehaufen auf, viele von ihnen waren gelb gesprenkelt. Neben uns hob ein fetter Köter undefinierbarer Rasse sein Bein, hinter der nächsten Straßenlaterne knöpfte ein fettes menschliches Wesen seine fleckige Hose auf.
Sechs dünne Cordhosenbeine eilten an der Pizzeria, einem Drogeriemarkt und der Herrenboutique Domingo vorbei. Unter unseren mächtigen Moonboots knirschte das Streusalz, nein, der extraterrestische Staub. Wenn ich die Augen zu Schlitzen machte, war ich ganz weit weg. Nicht in Berlin, sondern auf einem fernen Ster n – der Ü-Club war zum Schulanfang in einer Ü-Rakete einfach abgedüst und in der Weite Patagoniens gelandet. Und da war ich jetz t – irgendwi e – auf einem Motorrad mit dem Hauser, ein orangefarbener Himmel über uns.
Schon immer wollte ich möglichst weit weg. Zuerst wollte ich nach Kanada, Alaska, Australien, Neuseeland. Und davor nach Skandinavien. Aber dann kamen The Wiebkes and the Klauses auf die Idee, mit Falk und mir nach Skandinavien zu reisen. Doch in dem Moment, in dem ein Traumland, ein Euph- und Geheimland, Urlaubsziel der Eltern wird, verliert es natürlich seine Magie.
Auf Patagonien war ich nach unserem furchtbaren Weihnachtsfest im letzten Jahr gekommen. Allein die Fotos, die ich in einem Südamerikabildband aus unserer Stadtbibliothek gesehen hatte, hatten es mir angetan: die Steppen mit dem Andenkondor, die Urwaldriesenbäume, das Guanako, der Nandu, Flamingos, der valvidianische Regenwal d … und dann die Gletscher, die Vulkane, die Eisseen und die Pinguine ganz im Süden. Und die Karte in meinem Atlas: Wie dünn besiedelt Patagonien is t – weniger als zwei Einwohner pro Quadratkilometer. Sicher stand dort auch sehr wenig Kunst herum. Und niemals würde dort die Polonäse im Radio laufen.
Als ich die Augen wieder richtig öffnete, sah ich die pissebesprenkelten Schneehaufen
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