Hausers Zimmer - Roman
und dann hat sie um Punkt Mitternacht vor allen Leuten ihre Pille geschluckt, so nach dem Motto: Seht, ich bin allzeit berei t … Gott, war das eine peinliche Nummer.«
»Echt, die nimmt schon die Pille?«
»Ja, aber ich bin nicht neidisch drauf. Wenn wir erst richtig loslegen, Jule, ist die schon oll und abgegessen!«
Ich nickte. Aus Isas Mund klang alles so klar und logisc h – und beruhigend. Außerdem sprach sie von »wir«, das war noch beruhigender. Ich nahm meine rote Kinderbrille ab und säuberte die Gläser mit meinem T-Shirt.
Auf meinem Matratzenlager begann ich zu grübeln. Es gab wenig, was mir zurzeit Spaß machte. Was Schachspielen anging, fand Isa, das sei eher was für Jungs, aber ich verstand nicht, wieso. Sie nervte mich in letzter Zeit mit ihren Äußerungen, wie Jungen und Mädchen angeblich so seien. Kakteen züchteten eigentlich auch nur Jung s – behauptete sie. Reiten hingegen war ganz sicherlich das Richtige für Mädchen.
Als Isa schließlich die U-Bahn nach Lichtenrade zu Wuschel nahm, machte ich mich auch auf, aber ich ging nicht zu meinem langweiligen Töpferkurs, sondern auf den Hof, wo ich eine Bierdose hinter den Mülltonnen vor mich hinkickte. Dieses scheppernde Störgeräusch mochte ich sehr gern. Es nieselte schon wieder vor sich hin, und in der Luft hing Kohleofengeruch. Lange Zeit war es still, nur meine kleine Dose flog hin und her. Der Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung wechseln kann. Francis Picabia . Das hing an Annas Pinnwand neben zwei Fotoreihen: »Ich und Fiona auf Kreta« und »Ich und Fiona auf Rhodos«. Vielleicht werden die im Kopf herumkurvenden Gedanken aber auch nur abgebremst, bevor sie Schwung kriegen können. Jetzt flog meine Dose über die Hofmauer.
Das Ereignis des Tages war, dass Pechs mit Aldi -Tüten an mir vorbeiliefen. Die Aldi -Tüte, die Frau Pech trug, war am Henkel schon eingerissen. Für Sekunden hoffte ich, dass die Tüte reißen und der Inhalt mit einem lauten, irgendwie befreienden Gepolter auf den Boden kullern würde, aber nichts passierte.
An die Mauer hinter den Mülltonnen hatte jemand geschmiert: Kommt Zeit, kommt Rat. Kommen Zeiten, kommen Ratten. Wie es wohl hinter der Mauer aussah? Dort, wo jetzt meine Dose lag?
Die Pechs wohnten seit Ewigkeiten bei uns im Hinterhaus. Sie waren früher Besitzer einer Kneipe gewesen, das MeinEck , dessen Geschäfte aber seit langem ihre Tochter übernommen hatte. Einmal war ich mit Falk da, als Wiebke und Klaus einen Tagesausflug nach Dresden gemacht hatten. Sie besuchten dort befreundete Künstler. Vorher gaben sie uns je fünf Mark, damit wir uns etwas zu essen kaufen konnten. Im MeinEck standen überall Flipperautomaten herum, und am Ende hatten wir eine Menge Spaß gehabt, aber keinen Bissen gegessen. Zu Hause wühlten wir dann in der Speisekammer und aßen Knäckebrot mit Schmelzkäse.
Mein Blick glitt zur bemoosten, halb verrosteten Teppichstange, die neben den Mülltonnen im Unkraut stand. Das Schild Teppiche ausklopfen vor 6 Uhr morgens verboten hatten Falk und ich, regenweich wie es war, zerrissen, und die Hausverwaltung hatte es nicht mehr nachgeklebt. Es hatte den Krieg, die Taubenscheiße und den Schneematsch überdauert, aber nicht uns. Vielleicht ging einfach nur das Leben weiter. Frau Jankowski (eine alte Nachbarin, die letztes Jahr gestorben war) mit ihrem Gemeckere, Kinder sollten »jefälligst leise spielen!«, hatten wir mit unserem endlosen, monotonen Dosenkicken übertönt. Irgendwann war Ruhe da oben (Falk gab damals zurück: »Erwachsene sollen jefälligst leise meckern!«). Die Hofordnungen wellten sich und wankten; sie wurden mit dem Glucksen und Gurgeln der Abflusskanäle fortgespült und von Rattenzähnen geduldig zersetzt.
Der Hauser war nicht da. Wo er wohl gerade steckte? Ob er wirklich ein »Kleinkrimineller« war?
Nachdem die Pechs mit Waldemar in ihre Wohnung getrippelt waren und prompt das blaue Licht ihres Fernsehers anging, war es wieder still. Schließlich lief ich in den Seitenflügel. Was ich da wollte, wusste ich nicht. Ich saß gern in kalten Treppenhäusern herum, fröstelte ein wenig und horchte auf die Geräusche der Stadt. Auf die urbane Klangcollage. Bevor ich Zeit hatte, mir zu überlegen, worüber ich herumgrübeln könnte, ging die Tür vor mir auf, und der Hauser stand da. In brauner Wildlederhose, sein Bauchnabel lugte unter einem zu kurzen T-Shirt hervor. Die langen Locken hingen ihm ins Gesicht, fielen über die Schulter. Seine
Weitere Kostenlose Bücher