Hausers Zimmer - Roman
zusammengefalteter Zeitung unterm Arm zu spät zurück in den Unterricht. Er entschuldigte sich nie, und niemand wusste, wo er gewesen war.
Einmal hatte ich auf dem Hof ein überraschend lustiges Gespräch mit ihm geführt. Wir hatten über Leute geredet, die so viel sammelten, dass sie sich in ihrer eigenen Wohnung kaum noch den Weg zur Tür bahnen konnten. So ein Fall hatte gerade wieder in der Zeitung gestanden. Ein Mann im Wedding war unter einem zwei Meter hohen Zeitungsberg begraben in seiner Wohnung gefunden worde n – er hatte verzweifelt an die Wand zur Wohnung der Nachbarn geklopft, weil er sich nicht mehr befreien konnte.
Dann hatten Steffen und ich uns noch zu Tillman gehockt, der manchmal mit Flugblättern für Demos auf dem Schulhof aufkreuzte. Er war der Sohn des Kunstlehrers, ein punkiger Typ mit Hakennase und Nickelbrille, groß und schlaksig, mit Akne im Gesicht. Tillman war auch ein ziemlicher Außenseiter, hatte aber so seine zwei, drei Jungs mit schwarzgefärbten Zotteln und selbstgedrehten Zigaretten um sich versammelt. Die Popper machten sich oft lustig über sie, aber eigentlich waren sie harmlos, sie saßen nur im Schneidersitz in ihren Qualmwolken auf dem Boden und quasselten über Nietzsche. Ich fand sie nicht blöd wie die anderen, aber sie waren auf ihre Art auch arrogant und pseudo. Pseudo, sagte Isa immer. Die sind so pseudo.
Den Hauser hatte ich in den letzten Wochen nur bei Aldi gesehen. Einmal war ich mit Isa, Fiona und Sonja Häagen-Dazs-Eis essen auf dem Ku’damm. Als Fiona und Sonja gerade in ein Gespräch über das Locho w – ein Freibad in Wilmersdorf mit dem Ruf eines Anbaggerladen s – vertieft waren, sprach ich Isa auf den Hauser an. Was sie denn über ihn denken würde. Ich tat so, als fände ich ihn ziemlich übel. Aber leider war aus Isa nichts Spannendes herauszulocken, sie zuckte nur die Schultern und meinte: »Berlin ist die Welthauptstadt des Prolltums. Noch ein Beweis, wenn du mich fragst!«
Der Begriff Proll für Proleten war in verschiedensten Varianten aufgekommen. Dass unsere Schule verprolle, hatte letztens im Stacheldraht gestanden. Ein Jahr zuvor hieß es, sie verpoppere! Alarm gab es immer im Stacheldraht .
Später begleitete ich Isa zu Karl und Erwi n – diese Woche war Frau Hülsenbeck hauptsächlich für das Wohlergehen der beiden verantwortlich. Fionas Mutter, Isas Mutter und The Wiebkes and the Klauses wechselten sich mit dem »Vorsitz« in Sachen Obdachlose ab. Isa war froh, dass ich mitkam, das merkte ich. An einer Säule, die die Betondecke trug, stand seit Neuestem Der Traum ist ausgeträumt . Darunter gesprayte Träne n – oder Blutstropfen. So viel wie damals ist wohl nie an Sprüchen im öffentlichen Raum kundgetan worden. Karl stand mit einer Fliegenklatsche vor seinem Stereotower und haute wild auf dem schwarzen Gehäuse herum.
»Die surr’n uns noch tot«, erklärte er. Mit seinen behaarten Armen machte er rudernde Bewegungen in der Luft, um seine Worte zu unterstreichen.
Erwin saß auf der Matratze und hatte seinen Kopf an Karls Bein gelehnt. Karl klatschte weiterhin Fliegen, die manchmal in Erwins wirren Haarschopf fielen. Die Ruhe, mit der Karl seiner Fliegenfängerei nachging, die müde Gemütlichkeit, mit der Erwin seinen Kopf an den strammen Oberschenkel seines Freundes gelegt hatte, über ihnen der ausgeträumte Traum; für einen Moment sah ich dieses Bild als modernes Stillleben, schwarz auf weiß gemalt, vielleicht von Gerhard Richter nach einer nicht vorhandenen Fotografie.
Später war ich gerade damit beschäftigt, auf dem Balkon ein paar Flauschs von meinem Handrücken zu beseitigen, da stand Wiebke vor mir und sah mich bedeutungsschwanger an. »Für dic h – ein Steffen!«
Wir telefonierten stundenlang. Steffen erzählte mir von seiner Mutter, die in einer Bibliothek arbeitete und ihm viel aufregendere Bücher mitbrachte als die, die wir in Deutsch lasen. Und er erzählte von seinem Hund Trotzki. Wir unterhielten uns ewig über Tiere; ich erzählte, dass Falk manchmal Wespen ankokelte. Das fand Steffen nicht witzig, aber er sagte auch nicht gleich, dass Falk ein Idiot sei.
Am nächsten Tag in der Schule blieb ich während der Pause mit Steffen im Klassenzimmer. Nachdem ich ihn gefragt hatte, wie es Trotzki gehe, setzte ich mich einfach neben ihn. Steffen packte seine Kopfhörer aus, dann hörten wir Miles Davis, jeder mit einem Ohr. Steffen meinte, dass er die Neue Deutsche Welle nicht leiden könne; ihm gefiel
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