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Haut, so weiß wie Schnee

Haut, so weiß wie Schnee

Titel: Haut, so weiß wie Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastei Lübbe
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Tag saßen sie inzwischen am Schreibtisch. Vor den Ferien ließen die Lehrer noch jede Menge Arbeiten schreiben. Jette war Stammkundin in »Annas Büdchen«, wie sie den Kiosk nannte. Es verging kaum ein Tag ohne ein Eis oder ein paar Brausebonbons. Nur gestern und vorgestern hatte sie sich nicht bei ihr blicken lassen. Sie hatte bei Klara geschlafen.
    Genau an der Stelle, wo sie vor ein paar Tagen wegen der Enten fast einen Unfall verursacht hätte, sah sie an einem Baum einen Jungen sitzen. Er trug eine Sonnenbrille und hatte ein großes Schild vor sich aufgestellt. Darauf stand: »Ich suche das Mädchen, das hier am Montagnachmittag eine Entenmutter mit ihrem Küken über die Straße geführt hat.«
    Jette blieb stehen. Damit konnte nur sie gemeint sein. Sie betrachtete den Jungen genauer. Er schien in ihrem Alter zu sein und hatte blonde glatte Haare und feine Gesichtszüge. Er bewegte sich nicht. Jette war sich nicht sicher, ob er sie sehen konnte. Sie ging näher, und der Junge fragte: »Hallo?« Er schien blind zu sein.
    »Hallo«, sagte Jette.
    »Bist du das Mädchen?«, fragte er und zeigte auf das Schild.
    »Ja«, sagte Jette.
    »Endlich!«, sagte er. »Und du heißt Lina Sandwey?«
    Der Name kam von weit her. Als hätte ihn jemand über ein weites Meer geschickt.
    Jette sagte nichts.
    »Bist du noch da?«, fragte der Junge.
    »Ja«, sagte Jette.
    »Bist du die Lina Sandwey?«
    »Ja.«

Saalfeld unter Druck
    »Guten Morgen, Herr Dr. Saalfeld. Sonniger Tag, nicht?« Benno Krawtschik machte eine formvollendete Verbeugung und öffnete seinem Chef per Tastendruck den Aufzug zur Vorstandsetage. Saalfeld trat in die Kabine, Krawtschik folgte, und mit einem sanften Ruck setzte sich die gläserne Kapsel in Bewegung. Saalfeld blickte durch das schusssichere Glas direkt in das Blätterwerk einer angrenzenden Eiche. Normalerweise genoss er es, aus dem Grün des Baumes förmlich herauszuschießen, aber heute war er abgelenkt. »Guten Morgen«, hatte der Aufzugführer gesagt. Sonst wünschte er Saalfeld immer einen »Wunderschönen guten Morgen«. Genau genommen war dies das erste Mal innerhalb von zehn Jahren Vorstandstätigkeit, dass der Aufzugführer sich gegenüber seinem Chef so kurz fasste.
    Die fahrbare Kapsel kam mit einem Ruck zum Stehen. Kai Saalfeld konnte beim Hinausgehen noch sehen, wie Benno Krawtschik wieder nach seinem Krimi griff. Auch das hatte es noch nie gegeben! Dass der Aufzugführer bereits nach seiner Lektüre kramte, noch bevor der Chef die Kabine richtig verlassen hatte. Was für eine Unverschämtheit! Saalfeld sah keinen Grund, diese Respektlosigkeit durchgehen zu lassen. Morgen würde sich Krawtschik am Kantinenaufzug wiederfinden.
    Im siebzehnten Stock der Konzernzentrale angelangt, marschierte Saalfeld zu seinem Büro. Trotz der dicken Teppiche waren seine Schritte deutlich zu hören. Er wandte dafür eine besondere Gehtechnik an, die er in den ersten Wochen seines neuen Amtes trainiert hatte. Dank ihrer Hilfewusste jeder auf dem Flur sofort, dass der Chef nahte. Gleich würde die Tür zu seinem Vorzimmer aufgehen und seine Sekretärin ihm noch im Türrahmen Mantel und Jacke abnehmen. Aber was war das? Im letzten Augenblick konnte Saalfeld gerade noch scharf stoppen. Die Tür war geschlossen, fast wäre er dagegengeprallt. Mit einem Hieb auf den Türgriff verschaffte er sich Einlass. Das Zimmer war leer. Unglaublich. Frau Menzel, seine Sekretärin, hatte es noch nie einfach so verlassen. Selbst wenn sie austreten musste, bat sie immer eine Kollegin von nebenan, sich kurz an ihren Schreibtisch zu setzen. Was war hier eigentlich los? Außer ihrem Lodenmantel, der ordentlich am Kleiderständer hing, und dem eingeschalteten Computer wies nichts auf die Anwesenheit der Sekretärin hin.
    Saalfeld durchquerte den Raum, ging in sein Büro und warf dort wütend seinen Mantel und seine Tasche auf einen kleinen Couchtisch. Dann ließ er sich in seinen Chefsessel fallen und wartete, was eine völlig ungewöhnliche Situation war, denn normalerweise war jede Minute seiner Arbeitszeit verplant. Seine Sekretärin schob ihn von einem Meeting in das nächste, verlangte ständig Unterschriften oder stellte Telefonate durch. Schließlich hatte er fünfundsiebzigtausend Mitarbeiter zu führen. Nur vier Jahre hatte er damals gebraucht, um es bei Stayermed vom Abteilungsleiter zum Vorstandsvorsitzenden zu bringen. Seine Kollegen hatten immer sein Gespür für gute Geschäfte gerühmt, sein Verhandlungsgeschick

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