Haut, so weiß wie Schnee
fransigen Kopfhaare der Frau.
Er war noch auf der Treppe, als er Dr. Saalfeld in seiner Bibliothek ins Telefon brüllen hörte. Wörter wie »alle entlassen« und »völlig unfähig« fielen. Den Geräuschen nach zu urteilen lief der Hausherr dabei hektisch im Raum umher. Einen Augenblick kam kein Laut mehr aus dem Zimmer. Dann stürmte Dr. Saalfeld zur Tür und riss sie auf.
»Guten Tag, Herr Dr. Saalfeld«, sagte Jonah, der den Treppenabsatz fast erreicht hatte, in Richtung des Hausherrn.
»Hallo, Jonah«, sagte Dr. Saalfeld und beruhigte sich etwas.
»Wie geht’s Ihrem Ausreißer?«, fragte Jonah und ärgerte sich sofort über seine Freundlichkeit. Warum schleimte er hier herum, wo Dr. Saalfeld plante, ein Mädchen zu beseitigen?
»Prächtig, prächtig«, antwortete der Hausherr. Seine Laune schien sich aufzuhellen. »Hat heute Morgen ein ganzes Mäuschen gefressen. Ein neugeborenes ohne Fell. Aber ab nächster Woche ist Schluss mit der Babynahrung. Dann gibt es normale Mäuse. Das Leben ist kein Zuckerschlecken. Bis dann. Hab noch was zu tun. Toi, toi, toi.« Damit drehte er sich um und verschwand wieder in seiner Bibliothek.
Wahrscheinlich muss er noch die Siegerehrung für den Schönheitswettbewerb organisieren, dachte Jonah grimmig. Los jetzt!, trieb er sich selbst an. Wenn ich so weitermache, bin ich morgen früh noch nicht unten. Im nächsten Moment rutschte er auf der Treppe aus und schlug sich die Kante einer Stufe voll ins Kreuz. Er versuchte noch, sich am Geländer festzuhalten, was allerdings nur dazu führte, dass er sich auch noch den Daumen verstauchte.
»Scheiße!«, fluchte Jonah, als er sich mühsam wieder aufrappelte. Irgendjemand hatte ein Blatt Papier oder einen Brief auf die Treppe gelegt. Die letzten Meter zur Einliegerwohnung seiner Eltern humpelte er. Drinnen setzte er sich erst mal an den Küchentisch. Es war niemand da. Montagnachmittag. Sein Vater machte den Wocheneinkauf, und seine Mutter war mit der Wäsche beschäftigt. »Lina Sandwey«. Er hatte sich den Namen gemerkt. Leider hatten Dr. Saalfeld und Wim Tanner nicht gesagt, wie das Mädchen heute hieß. Bestimmt trug sie jetzt einen anderen Namen. Aber vielleicht gab es Verwandte mit dem alten Namen.
Jonah stand auf und holte sich das Telefon. Er tippte die Nummer der Auskunft ein. Eine Computerstimme wiederholte, was er gewählt hatte. Dann ertönte das Freizeichen.
Dieses Telefon war eines der ersten Dinge gewesen, die seine Eltern nach dem Unfall für ihn gekauft hatten. Sie waren dafür mit ihm nach Marburg gefahren, wo es einen gut sortierten Blindenshop gab. Der Tag war einer von vielen Tiefpunkten in jenen ersten Wochen gewesen.
In dem Laden waren sie auf ein Panoptikum von Absonderlichkeiten gestoßen. Eine Verkäuferin führte sachlich durch das Sortiment. Es gab Messbecher mit Sprachausgaben, Halter für Socken, damit man vor dem Waschen immer die richtigen zusammenstecken konnte, gläserne Herdplatten, die sich meldeten, wenn die Milch überlief. Außerdem natürlich auch jede Menge sprechender Uhren, wobei die meisten vor der Zeitansage erst einmal mit einem »Guten Morgen« oder »Guten Tag« nervten. Dann Geldbörsen mit verschiedenen Fächern für die einzelnen Euromünzen. Schreibtafeln, auf denen man sich unterwegs in Brailleschrift Notizen machen konnte – sofern man denn diese Schrift beherrschte. Kurz, der Laden führte alles, was das blinde Herz begehrte.
Jonah hatte danach drei Tage lang nicht mehr geredet. Und seine Eltern hatten nie mehr vorgeschlagen, nach Marburg zu fahren. Die Uhr, die er jetzt trug und die auf Knopfdruck die Zeit ansagte, hatte seine Mutter in einem Onlineshop bestellt.
Endlich meldete sich die Auskunft. »Sandwey?«, buchstabierte der Telefonist. »Zu diesem Namen haben wir leider keinen Eintrag.« Jonah legte auf und überlegte. Vielleicht stimmte die Schreibweise nicht? Er rief noch einmal an und ließ alle Varianten des Namens prüfen. Aber wieder Fehlanzeige.
Okay, okay, okay, dachte Jonah. So leicht ist es eben doch nicht. Er stand auf, ging zur Spüle, drehte das kalte Wasser auf und hielt seinen schmerzenden Daumen unter denStrahl. Dann nahm er sich ein Glas, ließ es etwa bis zur Hälfte volllaufen und drehte das Wasser wieder ab. Er trank das Glas in einem Zug leer. Ich telefoniere, kann mich mit Wasser versorgen, klappt doch alles ganz gut, dachte er und spürte eine unglaubliche Wut in sich aufsteigen. Wie viel Mühe ihn diese alltäglichen Verrichtungen
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