Haut, so weiß wie Schnee
… Gartenfest … Jette hörte nicht genau hin. Der Junge roch nach Brausebonbons und Himbeerschnaps.
Die Frau sagte, sie müsse kurz halten, um einen Brief einzuwerfen. Der Wagen fuhr rechts ran, aber sie stieg nicht aus. Stattdessen wurden hinten plötzlich die Türen aufgerissen, und zwei Männer mit Motorradhelmen drängten sich neben sie. Bevor Jette etwas sagen konnte, spürte sie einen Stich im Nacken. Der Mann neben ihr hielt eine Nadel in der Hand. Jette wurde schwindelig. Der Junge rief: »Lassen Sieuns in Ruhe! Sie kriegen das Blut nicht! Dr. Saalfeld hat kein Recht …« Jette wollte aus dem Auto springen, aber der Mann drückte sie in den Sitz zurück und hielt sie fest. Ihr wurde auf einmal sehr übel. Sie versuchte zu schreien, bekam aber kein Wort heraus. In ihren Ohren rauschte es. Sie griff nach der Hand des Jungen. Mit letzter Kraft wandte sie ihm ihren Kopf zu. »Wie heißt du?«, fragte sie.
»Jo…«, antwortete er.
Dann wurde ihr schwarz vor Augen.
Im Affenhaus
Schlaftrunken tastete Jonah nach dem Wecker. Ob es schon hell war? Sein Kopf schmerzte. Er griff nach rechts, aber da war nichts. Kein Nachttisch. Komisch. Er ließ seine Hand nach unten gleiten und berührte den Boden. Er fühlte Holzplanken. Verwundert stellte er fest, dass er auf einer Isomatte lag. Unter einer Wolldecke. Seine Brille kam ihm zwischen die Finger, und er setzte sie auf. Wo war er? Erst jetzt kam die Erinnerung zurück. Zwei Männer hatten sie im Auto überfallen. Und Carmen hatte für die Männer angehalten. Carmen.
Jonah setzte sich auf und winkelte die Knie an. »Ist hier jemand?«, fragte er vorsichtig. Seine Worte verloren sich in einem weiten Raum. Wo war er hier? Nichts regte sich. Jonah spürte, wie er panisch wurde. Er zählte: »… einundzwanzig, zweiundzwanzig …« Manchmal beruhigte ihn das, aber jetzt schien er ins Bodenlose zu fallen. Jonah, der Astronaut, der sein Raumschiff verloren hatte und orientierungslos im All herumschwebte. Fern aller Menschen. Ohne Schwerkraft. Hitze strömte durch seinen Körper. Dann Kälte. Sein Herz raste. In den ersten Wochen seiner Blindheit hatte er viele solcher Panikattacken erlebt. Als seine Welt plötzlich nur noch aus dem Radius bestand, den er ertasten konnte. Als alles, was über die Reichweite seiner Hände hinausging, in einer dunklen, bedrohlichen Ursuppe zu verschwinden schien.
Ein lautes Krachen ließ Jonah vor Schreck zusammenzucken. Ein Donner. Als das Grollen verebbte, konnte er Regentropfen auf ein Glasdach trommeln hören. Ein Glasdach! Und nicht nur das. Auch an den Seiten traf der Regenauf Glas. War er in einem Gewächshaus? Es roch aber nicht nach Pflanzen, sondern eher nach Holzleim und Fensterkitt, und besonders warm war es auch nicht. Auf jeden Fall musste der Raum riesig sein. Das konnte er an dem Geräusch des Regens hören, der auf weit entfernte Glasflächen traf. Und er selbst befand sich irgendwo in diesem großen Raum. Und zwar irgendwo zwischen Erdboden und Dach, vermutlich in einer Art Zwischengeschoss. Auch das konnte er aus dem Klang der Regentropfen schließen. Außer ihm schien kein Mensch da zu sein. Nun drehte der Wind und trieb die Tropfen stärker von der Seite heran. Mal ertönte ihr Trommeln heller, mal dunkler, dann wurde es wieder vom Rauschen herabströmender Wasserbäche überdeckt. Sein Herz klopfte wieder gleichmäßiger. Das Geräusch des Regens beruhigte ihn.
Ob das Mädchen auch hier war? Sie hieß Jette. Nicht Lina. Er hatte auch noch einen neuen Namen für sie. Seine Hand glitt suchend über den Boden, und er bekam eine zweite Decke zu fassen, ihre Decke. Sie lag neben ihm auf einer Isomatte und schlief. Sie roch nach Erde und Pfefferminz. Das war ihr Geruch. Etwas Himbeergeist schwang noch mit.
Der Regen ließ allmählich nach. Jonah drückte auf die Ansagetaste seiner Uhr. Die vertraute Computerstimme antwortete: »Vier Uhr fünfzehn am Morgen.« Er war erleichtert. Es tat gut, die wichtigsten Koordinaten von Raum und Zeit zu kennen. Vorsichtig strich er über Jettes Decke. Sie lag auf der Seite, ihr Kopf war in seine Richtung gedreht, und die Beine hatte sie etwas angewinkelt. Jonah schob seine Isomatte dicht an ihre. Dann rutschte er mit seinem Kopf an sie heran, bis sie Stirn an Stirn lagen und sich leicht berührten. So blieb er liegen.
»Mach schon«, hatte sie gestern gesagt und seine Hände auf ihr Gesicht gelegt. Er hatte noch nie das Gesicht einesanderen Menschen abgetastet. Warum auch? Die
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