Haut, so weiß wie Schnee
Gesichter der Menschen, die ihm nahestanden, kannte er ja. Und neue Freundschaften hatte er seit dem Unfall nicht mehr geschlossen. Die neuen Klassenkameraden in der Sehbehindertenschule interessierten ihn nicht, und wenn er sonst mit jemandem in Kontakt kam, zum Beispiel mit einer Verkäuferin im Supermarkt, fragte er sie natürlich auch nicht, ob er mal eben ihr Gesicht abtasten dürfe, bevor sie kassierte.
Er hatte sich erst nicht getraut, das Gesicht des Mädchens abzutasten. Aber dann hatte er gemerkt, dass sie leicht zitterte, und das hatte ihn irgendwie sicherer gemacht. An ihrem Gesicht war alles dran gewesen. Mehr konnte er eigentlich nicht sagen, denn er war viel zu aufgeregt gewesen, um sich irgendwelche Besonderheiten einzuprägen. Hatte sie nun eine Stupsnase, weit geschwungene Augenbrauen, eine hohe Stirn? Er wusste es nicht. Nur der Leberfleck war ihm aufgefallen. Der schon.
Ihr Atem war warm und kräuselte sich vor seinem Gesicht. Ein. Aus. Ein. Aus. Sie atmete gleichmäßig und tief. Er versuchte, seinen Atem dem ihren anzupassen. So blieb er liegen, bis auch er wieder einschlief.
»Jo, wach auf!« Jemand rüttelte an seiner Schulter. »Wo sind wir?«
Jonah schlug die Augen auf. Er war mit der Sonnenbrille eingeschlafen und musste sie erst einmal zurechtrücken. Dann setzte er sich auf. Sie nannte ihn »Jo«. Das gefiel ihm. Es musste inzwischen Tag sein, denn die Sonne schien. Er spürte ihre wärmenden Strahlen. Klar, sie befanden sich schließlich unter einem Glasdach.
»Was ist denn das?« Ihre Stimme klang entsetzt.
»Was?«, fragte er.
»Das!«
»Was denn?«
»An meinem Arm«, flüsterte sie. »Ein neues Pflaster. In der anderen Armbeuge. Da, wo der Biss war.«
»Vielleicht haben sie dir Blut abgenommen«, sagte Jonah langsam. »Als du geschlafen hast.«
»Arschlöcher«, sagte sie tonlos. »Hast du eigentlich unsere Blutproben noch?«
Jonah fasste sich an die Hosentaschen. Sie waren leer. Dann erinnerte er sich, dass er die Röhrchen hinter die Autositze gestopft hatte, als sich die beiden Männer in das Auto gedrängt hatten. Alles war besser, als ihnen das Blut auch noch direkt auf einem goldenen Teller zu servieren, hatte er sich gedacht.
»Wo sind wir hier?«, fragte sie erneut.
»Sag du es mir, Jella«, antwortete er. »Du kannst sehen.«
»Jella?«, fragte sie.
Er nickte. Ob ihr der Name gefiel? Er würde jetzt gern ihr Gesicht sehen. Eine Weile sagte sie nichts. Dann kam ein unsicheres »Okay«.
»Hast du dein Handy noch?«, fragte sie.
Er schüttelte den Kopf. »Und du?«
»Ich hatte meins gar nicht dabei.«
»Hast du sonst irgendwas da, was uns helfen könnte?«, fragte er. »Vielleicht ein Taschenmesser?«
»Nein«, sagte sie. »Nur meine Uhr.«
»Ja, eine Uhr hab ich auch.«
Sie richtete sich auf und fing an, ihm den Ort zu beschreiben. Er musste mehrmals nachfragen, um sich ein Bild machen zu können. Sie befanden sich in einer hohen, weiträumigen Halle aus Glas, vermutlich einem Gewächshaus. Allerdings fehlten noch die Pflanzen. Die Halle war leer. Lediglich ein paar Baustellenfahrzeuge standen herum. Der Boden war tief ausgehoben, wahrscheinlich um ihn spätermit Erde aufzufüllen. Am anderen Ende der Halle gab es einen großen Wasserteich. Sie saßen auf einem Gerüst fest, einer Art Hochstand. So wie es Förster im Wald benutzen, hatte Jella gesagt. Aber höher und größer. Sie schätzte die Fläche des Hochstandes auf vier mal fünf Meter. Das alles befand sich in einer Höhe von vielleicht zehn Metern. Zu hoch, um hinunterzuspringen. Hinunterklettern war auch nicht möglich, weil man sich nirgends festhalten konnte. Die Stützpfeiler des Gerüstes waren aus dicken glatten Holzstämmen.
Das Gerüst stand in einer Ecke der Halle. Es hatte eine Holzbrüstung, die ihnen bis zum Bauch ging. An den Wänden war es mit Holz verkleidet. Wie bei einem normalen Hochstand gab es auch eine Öffnung in der Brüstung, um hinein und hinaus zu klettern. Aber keine Leiter. »Pass auf, Jo«, waren ihre Worte gewesen. »Da geht es tief runter.« Auf dem Hochstand befanden sich ein kleiner Tisch, zwei Stühle, einige Wasserflaschen, ein paar Becher und eine Campingtoilette. Durch die Scheiben konnte Jette Wiesen und Felder sehen, in der Ferne einen Zaun.
»Ich glaube, wir sind im Affenhaus«, sagte Jonah schließlich
»Bitte was?«, fragte Jette verdutzt.
»Dr. Saalfeld baut ein neues Tropenhaus. Auf einem Acker neben der Villa. Er will auch eine Kolonie Affen
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