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Haut, so weiß wie Schnee

Haut, so weiß wie Schnee

Titel: Haut, so weiß wie Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastei Lübbe
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Blut eine Lösung auf Dauer ist, weiß ich nicht.« Der Junge redete unbeirrt weiter, doch er wirkte dabei immer unsicherer. Ihm war wohl inzwischen klar, dass Jette ihm kaum zuhörte. »Du solltest dir überlegen, ob du deine Gene generell der Forschung zur Verfügung stellen willst. Dann müsstest du eigentlich für immer sicher sein …«
    Ich habe nicht einmal ein Foto von meiner Mutter, dachte Jette. Ich habe gar nichts. Kein Amulett, keinen Teddy, keine Stoffwindel mit Initialen oder was immer Mütter ihren Kindern normalerweise auf den Lebensweg mitgeben. Nichts außer einem Namen. Und den trage ich nicht mehr.
    Jette lehnte sich vor und fragte: »Kannst du mich noch mal Lina nennen?«
    Der Junge lachte. »Kann es sein, dass du dich nicht entscheiden kannst?«
    »Wieso?«, gab Jette patzig zurück.
    Der Junge überlegte einen Moment. Dann sagte er: »Wie findest du Lina-Jette?«
    »Doof.«
    »Jette-Lina?«
    »Ich mag keine Doppelnamen.«
    »Dann: Je…lina«, schlug er feierlich vor.
    »Jelina?«, fragte Jette. »Das passt nicht zu mir. Das ist zu lieb und total langweilig.«
    »Du willst einen bösen, aufregenden Namen?«
    »Ja.«
    »Ich weiß einen.«
    »Welchen?«
    »Hm«, machte der Junge und wand sich etwas. »Kann ich nicht sagen.«
    »Wieso nicht?«
    »Nur gute Freunde würden dich so nennen. Und ich kenne dich ja fast noch gar nicht.«
    »Aber wenn du mir den Namen nicht sagst, dann werde ich ihn vielleicht nie erfahren.«
    »Ich sag ihn dir später«, erklärte der Junge.
    Jette lehnte sich wieder an den Baumstamm. Die Wärme des Holzes kroch in ihren Rücken. Plötzlich hatte sie das Gefühl, Zeit zu haben. Sie lächelte. Der Junge konnte es nicht sehen, was ihr aber egal war.
    »Ich habe Spritzen zum Blutabnehmen dabei«, sagte er nach einer Weile und zeigte auf seine Hosentasche. »Wenn du willst, helfe ich dir. Wir sollten es sofort machen.«
    »Okay«, sagte Jette. Sie wusste zwar nicht wirklich, worum es ging, aber der Junge hatte sicher recht.
    »Weißt du, wo wir hinkönnen? Wir brauchen einen Ort, wo uns niemand stört.«
    »Komm mit!«, sagte Jette.
    Der Junge erhob sich. Mit einer Hand stützte er sich am Boden ab. Mit der anderen schützte er seinen Kopf vor den herabhängenden Zweigen.
    »Hast du keinen Stock?«, fragte Jette. »Oder einen Blindenhund?«
    »Nein«, antwortete er knapp.
    »Wie gehen wir dann?«
    »Wenn es dir recht ist«, sagte er etwas hölzern, »lege ich meine Hand auf deine Schulter und laufe neben dir her.«
    »Gut«, sagte Jette und klemmte sich das Schild unter ihren freien Arm.
    Seine Hand war leicht. Unwillkürlich hob Jette den Blick, um ihn anzuschauen. Er war etwas größer als sie. Aber seinem Gesicht fehlte das Wesentliche – die Augen. Wie zurückgewiesen sah Jette zur Seite. »Gehen wir«, sagte sie tonlos.
    Der Junge passte seinen Schritt dem ihren an. Wie ein einfühlsamer Tänzer reagierte er auf die kleinsten Bewegungen. Eine angedeutete Drehung ihres Oberkörpers reichte, und auch er änderte seine Richtung. Lief sie schneller, zog er noch im selben Moment nach. Er war so flink im Umsetzen ihrer Signale, dass Jette den Eindruck hatte, als wisse er noch vor ihr, wohin sie gingen.
    Jette wählte den Weg über die Ampel. Sie sprang gerade auf Rot, als sie ankamen. »Wie siehst du eigentlich aus?«, fragte der Junge.
    »Dunkle Haare, dunkle Augen, helle Haut«, antwortete Jette. »Und ziemlich große Ohren.«
    »Quatsch.«
    »Doch.« Jette lachte. »Man sieht sie nur nicht unter den Haaren.«
    »Also hast du dicke Haare?«
    »Ja. Mit Locken.«
    »Aha.«
    Sie schwiegen.
    »Weißt du, für mich gibt es zwei Arten von Gesichtern«, sagte Jonah nach einer Weile. »Die, die ich schon kannte, als ich noch sehen konnte, und von denen ich weiß, wie sie aussehen. Und dann die, die ich nie gesehen habe.« Sein Tonfall war zwar sachlich, aber Jette konnte die Verzweiflung heraushören.
    »Du kannst aber doch tasten, oder?«, versuchte sie ihn aufzuheitern.
    »Ja, klar«, sagte er bitter.
    »Wenn du willst, kannst du mein Gesicht abtasten.«
    »Ich will aber nicht.«
    »Und wenn ich dich darum bitte?«
    »Was dann?«
    »Tust du’s dann?«
    Er schwieg.
    »Komm, mach schon«, sagte Jette und legte seine Hände auf ihr Gesicht.
    Die Hände des Jungen bedeckten fast ihr ganzes Gesicht. Jette spürte ihren warmen Atem unter seiner Hand. Sie versuchte, die Augen offen zu halten, strich beim Blinzeln aber mit ihren Wimpern an seiner Hand entlang und schloss die Augen

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