Haut, so weiß wie Schnee
schließlich.
Der Junge blieb eine Weile regungslos stehen. Dann öffnete er seine Hände und strich mit den Fingerspitzen ihre Stirn entlang nach außen. An den Schläfen drückte er seine Hände leicht an, und Jette spürte unter seiner Berührung das Blut in ihren Adern pochen. Er schob seine Hände weiter Richtung Stirn, spreizte die Finger, glitt tief in ihr Haar hinein und hielt es fest. So verharrte er einen Augenblick.
Dann wanderten seine Hände ihr Gesicht hinab. Mit den Fingerspitzen fuhr er ihre Augenbrauen nach, berührte die geschlossenen Augenlider, strich ihre Nase entlang, malte die Nasenflügel nach und erreichte fast die Lippen. Er formte mit seinen Händen eine weite Schale, und eine Weile ruhte ihr Gesicht darin.
Danach führte er seine Hände nach außen zu ihren Wangen, entdeckte dort ihren Leberfleck, umkreiste ihn, strich über ihn hinweg, schien sich irgendwie über dieses Muttermal zu freuen und wanderte weiter zu den Haaren und Ohren. »Segelohren«, stellte er nüchtern fest. Jette versuchte zu antworten. Aber ihr Gehirn produzierte eine Fehlschaltung, und sie biss sich stattdessen auf die Lippe.»Komm«, sagte der Junge. »Die Ampel ist grün, oder?« Er nahm ihre Hand.
Sie sagten nichts mehr, bis sie vor Annas Büdchen standen. Jette wies den Jungen auf eine Stufe am Eingang hin, wobei ihr auffiel, dass sie immer noch nicht wusste, wie er hieß. Im Innern des Kiosks lehnte die sechsundsiebzigjährige Anna weit über der Theke und beteiligte sich an den Gesprächen ihrer Kundschaft. Ein paar Leute aus der Nachbarschaft hatten sich an den zwei Stehtischen eingefunden.
»Hallo, meine Hübsche«, sagte Anna und strahlte die Neuankömmlinge an. Jette war ihre unangefochtene Lieblingskundin. Anna hatte sie aufwachsen sehen. Hier, in diesem Kiosk, hatte Jette mit drei Jahren ihr erstes Kaugummi bekommen, zur Einschulung durfte sie die Süßigkeiten aus ihrer Schultüte nach Belieben gegen andere eintauschen, und zu ihrem achten Geburtstag erfüllte Anna ihr ihren sehnlichsten Wunsch: mit einer Freundin im Kiosk zu übernachten und von allem naschen zu dürfen.
Jette fragte, ob sie im Hinterzimmer eine Cola trinken dürften. Anna nickte. Als sie mit dem Jungen an der Hand das Zimmer betrat, fiel ihr Blick wie immer auf die unzähligen Tanzfotos, die die Wände schmückten. Anna als Dornröschen, Anna als Cinderella, Anna im Schwanensee. Die Kioskbesitzerin war früher Tänzerin gewesen. Jette liebte die Bilder, die in einfachen Glasrahmen an der Wand hingen und von einer vergangenen Zeit erzählten. Der Junge neben ihr konnte sie natürlich nicht sehen.
Links neben der Tür stand ein Sofa mit einem kleinen Tisch. Daneben hing eine Wanduhr, deren Pendel weit ausschlugen. Die Uhr tickte laut. Es war kurz nach zwei. Auf der rechten Seite gab es einen kleinen Bistrotisch mit zwei Stühlen. Und vor dem Fenster stand ein Schaukelstuhl.Annas Katze hatte sich darauf zusammengerollt und blickte hoch. Als sie Jette erkannte, stand sie auf, sprang gegen die Lehne und rollte sich wieder zusammen.
»Die Katze schubst den Schaukelstuhl selbst an«, sagte Jette zu dem Jungen und lachte.
Sie setzte sich mit ihm an den Bistrotisch, und sie tranken ein paar Schlucke Cola.
»Anna war früher Tänzerin«, erzählte Jette.
»Aha.«
Stille.
»Hast du alles zum Blutabnehmen dabei?«, fragte sie den Jungen.
»Nur die Spritzen.« Er kramte in seinen Hosentaschen und förderte zwei Spritzen mit Kanülen zutage. »Wir brauchen noch etwas zum Abbinden. Vielleicht einen Gummihandschuh. Sollte nicht zu alt sein, damit er nicht reißt. Und etwas zum Desinfizieren. Am besten Schnaps. Und Taschentücher.«
»Willst du es selbst machen?«, fragte er, als Jette mit den Sachen zurückkam. Anna hatte ihr alles gegeben. Zum Glück hatte sie keine Fragen gestellt.
»Ich?« Jette zuckte zusammen. Darüber hatte sie noch gar nicht nachgedacht. »Ich weiß nicht.«
»Ich kann dir das Blut auch abnehmen.«
»Du?«
»Ich hab das zwar noch nie gemacht, aber im Krankenhaus haben sie mir dauernd Blut abgenommen. Und manche Ärzte haben auch erklärt, was sie tun. Soll ich?«
»Ja.«
»Wir machen es am Arm.« Der Junge zeigte auf seine Armbeuge. »Als Erstes musst du die Einstichstelle desinfizieren. Schütte dir etwas Schnaps auf die Haut.« Er klang ruhig und bestimmt.
»An dem einen Arm hat mich was gebissen«, sagte sie. »Und an dem anderen hat mir jemand Blut abgenommen. Welchen willst du haben?«
»Wim
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