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Haut, so weiß wie Schnee

Haut, so weiß wie Schnee

Titel: Haut, so weiß wie Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastei Lübbe
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die Männer ihre Sachen zusammen und verschwanden wieder.
    Jette saß auf ihrem Stuhl und wimmerte leise. Jonah spürte Scham in sich aufsteigen. Er hatte sie nicht beschützt. Die Männer hatten sie geschlagen, und er hatte nichts getan. Jette stand auf. Jonah hoffte, dass sie nicht zu ihm käme. Aber genau das tat sie. Sie setzte sich neben ihn, lehnte sich an ihn, doch er war wie gelähmt. Am liebsten wäre er auf der Stelle im Boden versunken. Es war nicht gut, dass er hier war. Hier gehörte ein anderer Junge hin. Einer, der ihr helfen konnte, wenn es darauf ankam. Sie nahm seinen Arm und legte ihn um ihre Schulter. Er ließ es geschehen. Er konnte ihre Tränen riechen. Und Blut. Sie musste im Gesicht bluten. Er schämte sich so.
    Es war alles so unwirklich. Vielleicht würde er ja gleich aus einem Traum aufwachen, neben sich ein paar Amarettosoufflés finden und Dukie beim Abhören der Bänder Gesellschaft leisten. Er hatte Jette geraten, nicht zur Polizei zu gehen. Wie naiv er gewesen war, er hatte alles völlig falsch eingeschätzt. Schneewittchen. Der Falke. Ein Schönheitswettbewerb. Alles hatte so etwas Unwirkliches gehabt. Wie in einem Film. Als hätten im Erdgeschoss der VillaSchauspieler ein Stück aufgeführt. Und als Zuschauer griff man schließlich auch nicht in die Handlung ein. Man sollte Traum und Wirklichkeit unterscheiden können, dachte er. Ich habe ja einen völligen Realitätsverlust.
    Jette hatte aufgehört zu weinen und saß still neben ihm. »Durst?«, fragte er. Sie nickte. In der Halle war es warm geworden. Sie heizen das Tropenhaus auf, dachte Jonah. Er ging vorsichtig in Richtung des Tisches. Nach vier Schritten stieß er an die Tischkante. Er fand die Wasserflaschen und die Becher und schenkte ein. Sie trank in ruhigen Zügen. Er hätte schwören können, dass sie ihn dabei nicht ansah. Eine unsichtbare Mauer hatte sich zwischen ihnen aufgetan. Er setzte sich zu ihr, traute sich aber nicht, ihre Hand zu nehmen. Dann hörte er wieder Schritte. Die Männer kehrten zurück. Sie stiegen in den Kranwagen. Jonahs Körper verkrampfte sich. Nicht schon wieder. Hatten sie etwas vergessen? Die Hebebühne fuhr hoch. Obwohl Jette direkt neben ihm saß, schien sie unendlich weit weg zu sein.
    Die Männer sprangen auf die Plattform. Sie hatten es eilig. Grobe Hände zerrten sie in die Höhe. »Was wollen Sie von uns?«, fragte Jonah und versuchte, mit fester Stimme zu sprechen. Keiner antwortete. »Der eine hat eine Pistole«, flüsterte Jette. »Und der andere eine Fernbedienung. Er tippt darauf rum.« Ein surrendes Geräusch ertönte. »Die Holzverkleidung fährt zur Seite«, sagte Jette überrascht. »Dahinter ist ein Hohlraum.«
    Jonah wurde es heiß. Wieder hatte er das Gefühl, dass ihm die Koordinaten entglitten. Wie konnte hinter der Holzverkleidung ein Hohlraum sein? Er war davon ausgegangen, dass der Hochstand ganz in der Ecke der Halle stand. Wo gab es da noch Platz?
    Die Männer stießen sie durch eine niedrige Öffnung in einen Raum, der eigentlich gar nicht da sein konnte. Aber erhatte einen Boden, und Jonah konnte sich sogar aufrichten. Das Gefühl, nicht zu wissen, wo sie waren und was mit ihnen passieren würde, war trotzdem unerträglich. »Einundzwanzig, zweiundzwanzig«, zählte er in Gedanken, um sich zu beruhigen, doch es half nicht viel.
    Die Männer warfen alles, was sich auf dem Hochstand befand, zu ihnen hinein, inklusive der Campingtoilette. Dann schoben sie die Tür zu.
    »Wo sind wir hier?«, flüsterte Jette. In ihrer Stimme lag die Angst derer, die nichts sehen. Wahrscheinlich war es in dem Raum dunkel. Ein Ventilator brummte leise vor sich hin.
    »Ich weiß es nicht«, antwortete Jonah und versuchte, die aufsteigende Panik niederzukämpfen.
    »Ich kann nichts sehen«, sagte sie.
    Für den Bruchteil einer Sekunde überkam Jonah Genugtuung. Endlich war er nicht mehr allein der Blinde. Das Gefühl verschwand zum Glück sofort wieder, und er hatte ein schlechtes Gewissen, dass er so etwas auch nur denken konnte. Wie er es hasste, an diesem Ort zu sein! Nicht ohne Grund verbrachte er seine Zeit hauptsächlich im Dachgeschoss der Villa und versuchte, sich von dort möglichst wenig fortzubewegen. Räume, die er nicht kannte, machten ihn hilflos wie einen aus dem Nest gefallenen Vogel.
    »Du hast doch gesagt, der Hochstand wäre direkt an der Wand«, sagte er vorwurfsvoll zu Jette.
    »Ist er ja auch.«
    »Und wo soll dieser Raum dann bitte schön sein? Ein Anbau außen an

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