Hautnah: Sinnliche Begegnungen (German Edition)
weg. „Nicht, doch!“ Obwohl mich seine Reaktion überraschte, beflügelte sie mich ebenfalls. Hatte er es verstanden? War Will von nun an Geschichte? „Was machst du denn?“ Ich erwiderte sein Lächeln, strich über seine weiche Wange.
„Schlaf gut“, sagte ich. Dann gab ich ihm einen Kuss auf die Stirn.
„Du wirst sehen, wenn du in der Schule bist, ist alles vergessen.“
Da verdunkelte sich seine Miene und er drehte sich weg.
„Ich will nicht in die Schule …“
Seine Worte und sein Verhalten gingen mir nicht mehr aus dem Kopf. Wo sollte das alles hinführen? Zwei Tage später brachte ich ihn zur Schule. Er war wortkarg, sah nicht auf. Ich hielt es für eine nette Geste, ihn zu begleiten. Macy war arbeiten und wir wollten Jim nach der letzten schweren Zeit nicht alleine gehen lassen. Als ich ihn abgesetzt hatte, fühlte ich mich etwas besser. In der Schule war er sicher, dort würde er Ablenkung finden, und hoffentlich neue Freunde. Reale Freunde.
Für diesen Tag hatte ich alle Termine abgesagt. Ich fuhr weiter, in die Stadt. Was ich vorhatte, hatte ich sogar meiner Frau nicht erzählt, doch die Fragen, wer Jim war, woher er kam und was mit seinen wahren Eltern geschehen war, ließen mir keine Ruhe.
Ich hatte mir bei der Adoptionsbehörde einen Termin geholt und erhoffte endlich, auf einen verständnisvollen Menschen zu stoßen.
Zuerst ließ man mich abblitzen. Informationen über die Herkunft der Heimkinder einzufordern, war höchst verpönt. Die Mitarbeiter unterlagen einer Schweigepflicht, die sie nur im Ernstfall brechen durfte.
Aber so schnell ließ ich mich nicht abwimmeln. Ich erzählte von den Problemen mit Jim und erwähnte auch den mysteriösen Will, da hielt die Sachbearbeiterin Frau James plötzlich inne. „Merkwürdig“, begann sie. „Sehr merkwürdig.“ Nach einer nachdenklichen Pause traf sie einen Entschluss: „Vielleicht können wir in Ihrem Fall eine Ausnahme machen.“
Sie holte die Akte von Jimmy. Damals hieß er noch Miller mit Nachnamen.
„Er war erst wenige Monate alt, als es passierte.“
Ich horchte auf. „ Es ? Was?“
Frau James holte aus:
„Jimmy war ein unerwünschtes Baby eines armen, arbeitslosen Ehepaars. Sie hausten in einer kleinen Einzimmerwohnung unter dem Dach eines baufälligen Hauses. Jim wuchs in Dreck und unsozialen Verhältnissen auf. Für zwei Leute war die Unterkunft schon zu eng. Geld war nicht einmal für das Nötigste vorhanden und dann noch ein Baby. Der Einzige, der sich um Jimmy wirklich kümmerte, war ein sechzehnjähriger Nachbarsjunge. Ein Herumtreiber, ein Jugendlicher, der gerne die Schule schwänzte, deshalb viel Zeit mit dem Baby verbringen konnte.“
Ich hörte gebannt zu, fand keine Worte.
„Als der Vater krank wurde, eskalierte die Situation. Sorgenzerfressen und mittellos wählte er den Freitod. Zuvor mischte er seiner Frau Schlaftabletten ins Essen, nahm selbst eine Überdosis und legte ein Feuer in der Wohnung. Es geschah früh am Morgen, als die meisten Bewohner des Hauses noch schliefen. Da sah eine Nachbarsfrau einen großen Gegenstand am Fenster vorbei fallen.
Sie trat hinaus und sah den Nachbarsjungen auf dem Rasen liegen. Er war tot. Das Baby Jimmy lag in seinen Armen. Die Wohnung unter dem Dachstuhl stand in Flammen. Der Nachbarsjunge hatte Jimmy gerade noch rechtzeitig aus dem Feuer retten können, jedoch war sein Rückweg von einem Flammenmeer versperrt. Er konnte nur noch das Fenster öffnen und sich hinausstürzen.“
Als ich das hörte, wurde mir übel. Ich hatte mit Einigem gerechnet, doch damit nicht.
„Dann hat der Nachbarsjunge sein Leben gegeben, um Jimmy zu retten?“
Frau James nickte.
„Ja, er war wohl ein furchtloser Bursche. Jimmy erlitt eine Rauchvergiftung, kam ins Krankenhaus, danach in das Heim.“
Ich ließ die Geschichte eine Weile auf mich wirken. Machte das alles einen Sinn? Ich grübelte laut:
„Vielleicht wollte er Jim gar nicht nur retten, sondern für sich behalten – für immer?“
Meine Worte verhallten im Raum. Ich sah Frau James neugierig an:
„Wie hieß der Nachbarsjunge?“
„Oh, da muss ich nachsehen“, sagte sie und durchblätterte die Akte nochmals. „Sein Name war William.“
Mir stockte der Atem. „Will?“
Sie sah mich fragend an.
„War dieser William schwul?“
Da erröteten ihre Wangen, sie lächelte. „Oh, das weiß ich nun wirklich nicht.“
„Sonderbar“, stammelte ich. „Aber das muss Will gewesen sein. Es ist Will, wie ist
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