Hautnah: Sinnliche Begegnungen (German Edition)
das möglich?“
Die Antwort lag für Frau James ganz nah: „Nun, ihr Jim wird sich an William erinnern. Er war damals zwar noch ganz klein, aber im Unterbewusstsein, ja, da sind diese Bilder abgespeichert. Jim hat Will nicht erfunden. Er erinnert sich an ihn!“
Mein Mund öffnete sich sprachlos. War es so? Konnte das möglich sein?
Ich ließ mir die Adresse geben, von dem Haus, in dem Jim einst gelebte hatte. Ich suchte den Ort auf, an dem nicht nur seine Eltern ums Leben kamen, sondern auch sein Freund Will.
Es war ein verkommenes Haus, niemand lebte mehr dort. Das Gemäuer war genauso heruntergekommen, wie die Pflanzen und Sträucher rings herum.
„Dort ist er gestorben, genau dort!“, erklang plötzlich eine Stimme hinter mir, die mir durch Mark und Bein ging. Eine alte Frau trat zu mir und folgte meinem Blick. Woher wusste sie, was mich hier hertrieb?
„Sie haben es gesehen, gesehen, wie es passierte?“
Ich staunte. Offensichtlich war sie die einzige Nachbarin, die das Drama genau miterlebt hatte.
Sie nickte. „Ich habe die Polizei informiert und die Feuerwehr, doch es war zu spät für den armen Bengel. Sein Schädel war zersprungen. Ein Wunder, dass der kleine Jimmy überlebte.“
Ich wurde immer neugieriger.
„Was war Will für ein Junge? Wieso haben sich seine Eltern nicht gekümmert?“
„Ach die!“ Sie winkte ab. „Will war das schwarze Schaf der Familie, homosexuell, wie man sagte, ungeliebt … In der Schule wurde er gehänselt, verdroschen und ausgelacht. Aber mit dem Baby ging er sehr liebevoll um.“
Ein dicker Kloß steckte mir im Hals. Ich mochte mir nicht vorstellen, was das bedeuten könnte. Ehe ich weiter fragen konnte, erklang im Hintergrund das Läuten einer Kirchturmuhr. Es war zwei Uhr. Schulschluss. Ich hatte Jim versprochen, ihn abzuholen.
Ich beeilte mich und kam dennoch zu spät. Als ich das Schulgelände betrat, war kein Schüler mehr zu sehen. Ich betrat den Raum der zehnten Klasse und traf zum Glück die Lehrerin an.
„Entschuldigen Sie“, sagte ich. „Ich bin John Steel, der Vater von Jimmy Steel. Ich wollte ihn abholen.“
„Oh!“ Das war ihre erste Reaktion. Sie stand auf, kam näher und beäugte mich dabei von Kopf bis Fuß. Was hatte das zu bedeuten?
„Jim wurde schon abgeholt.“
Ich stutzte. „Von wem?“ Macy ging ihrer Arbeit im Heim nach.
„Sein Freund hat ihn abgeholt“, sagte sie, für mein Empfinden etwas zu gefühlskalt.
„Sein Freund?“ Ich lachte. Was für ein Freund?
„Ein groß gewachsener, hübscher Kerl“, berichtete sie. Will!? , durchschoss es meine Gedanken. Mir wurde übel, die Knie wurden weich.
„War er blond? Blaue Augen?“
Sie nickte. Unfassbar.
„Was hat der Freund gesagt?“
Sie schüttelte den Kopf. „Nichts, er hat nur gelächelt. – Aber finden Sie nicht auch, dass er etwas zu alt ist für ihren Sohn? Das ist doch verwerflich, ordinär!“ Sie sprach offen aus, was ich seit Langem dachte: „Ihr Sohn sollte sich nicht in derartigen Kreisen bewegen.“
Ich eilte nach Hause. „Jim?“, schrie ich durch die Zimmer. „Jimmy?“, brüllte ich über den Rasen. Und dann: „Will! Nimm ihn uns nicht weg! Bitte, Will, nimm ihn mir nicht weg!“
Ich suchte stundenlang in der sengenden Hitze. Doch Jimmy blieb verschwunden. Ich selbst landete im Krankenhaus, mit einem Sonnenstich und einem gut attestierten Nervenzusammenbruch. Was an diesem Nachmittag passierte, konnte ich niemandem wirklich erklären. Und noch heute machen sie mir Angst: Sommertage, junge Männer in engen Shorts, hübsche Burschen, die sich auf dem Rasen sonnen und Schatten werfen.
Bastien
Sophie R. Nikolay
Schon wieder so ein Scheißtag! , dachte Anja.
Sie war auf dem Heimweg, ihre Schicht im Restaurant war eben zu Ende gewesen. Alles hatte heute Morgen angefangen, als ihre Zeitung klatschnass im Briefkasten lag und dann auch noch ihre Kaffeedose so leer war, das es nicht einmal mehr für eine Tasse gereicht hatte.
Also hatte sie missmutig, mit einem Tee und einer Scheibe Toastbrot, den Tag begonnen. Auf dem Weg zur Arbeit bemerkte sie, dass sie ihre Geldbörse zu Hause vergessen hatte. So musste sie nach Feierabend zuerst noch mal zu ihrer Wohnung, bevor sie zum Einkaufen gehen konnte.
Im Restaurant hatte sich ihre Laune weiter verschlechtert. Zuerst war da dieses ältere Ehepaar, das an allem nur herumnörgelte. Dann eine Familie, deren Kinder den ganzen Tisch und den Boden einsauten. Als sie in
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