Hautnah
Trout Island aussieht«, sagte Lara und ließ sich den warmen Portwein die Kehle hinabgleiten. »Ich dachte, Amerika wäre vor so was viel besser geschützt.«
»Das ist der fortschreitende Zusammenbruch des Kapitalismus«, meinte Stephen.
»Ich vergaß«, sagte Marcus lachend. »Du warst früher ein verkappter Trotzkist.«
»Die Leute sind weggezogen und haben ihre Häuser einfach aufgegeben«, fuhr Stephen fort. »Viele können sich nicht leisten, sie zu unterhalten, sie können ihre Hypotheken nicht bezahlen, und verkaufen können sie sie auch nicht. Jetzt gehören sie den Banken, niemand will sie haben, und sie zerfallen langsam. Schaut euch doch nur Detroit an – in großen Teilen der Innenstadt kehren die Leute wieder zur ländlichen Lebensweise zurück. Sie bauen in den leeren Höfen ihr eigenes Obst und Gemüse an, weil sie es sich nicht mehr leisten können, einkaufen zu gehen. Wenn man krank wird, kann das Rechnungen von mehreren Millionen Dollar bedeuten, und die Versicherung weigert sich, die Police zu verlängern. Wenn man jung und arm ist, sind die besten Karriereaussichten, auf die man hoffen kann, sich in Afghanistan erschießen zu lassen. Jetzt suchen sie hier nach Gasvorkommen, und für den Abbau werden Chemikalien benötigt, die ins Grundwasser sickern und die Menschen krank machen. Auf der einen Seite stehen die persönlichen Interessen der Mächtigen, auf der anderen die kaum hörbare Stimme des Volkes. So sieht es hier aus. Willkommen in Amerika.«
»Wow. Wenn du es so scheiße findest, warum lebst du dann hier?«, fragte Olly.
»Olly!«, rief Marcus.
»Nein, er hat recht«, sagte Stephen. »Das frage ich mich auch oft. Abgesehen davon, dass ich hier arbeite, ist dieses Land, ob es mir nun gefällt oder nicht, der einzige Ort, den ich als Heimat bezeichnen würde, seit ich mit sechzehn bei meiner Mum in Manchester ausgezogen bin. Sie ist inzwischen gestorben, und ich habe keine Geschwister, keine Cousins, niemanden. Wenn ich irgendwo hingehöre, dann hierher.«
»Und warum tust du dann nicht was? Du hast doch so viel Geld«, sagte Olly, dadurch ermutigt, dass Stephen mit ihm auf Augenhöhe redete.
»Im Moment geht es mir um mein eigenes Überleben«, erwiderte Stephen und sah ihn ruhig an. »Egal, was für Überzeugungen man hat, manchmal muss man sich zuallererst um sich selbst kümmern.« Dann blickte er auf seine Hände, und Lara fiel auf, wie schön er war. Das Kerzenlicht beleuchtete die Kontur seiner Wangenknochen und brachte gemeinsam mit seinen Worten seine innere Landschaft zum Vorschein.
Erneut blitzte es, und sofort darauf war der Donner zu hören. Er klang wie ein schlechter Soundeffekt. Es wurde still im Raum. Lara spürte, wie der Schweiß auf ihrem Rücken juckte. Einer nach dem anderen hob wie in Zeitlupe sein Glas an den Mund.
Und dann setzte urplötzlich der erlösende Regen ein. Er trommelte aufs Dach und gegen die Fensterscheiben und floss in Strömen, so als hätte jemand tausend Wasserhähne über dem Haus aufgedreht. Jäh zuckte ein greller Blitz auf, zeitgleich mit einem dröhnenden Donnerschlag.
Stephen stand auf, um die Fenster zu schließen, damit es nicht ins Haus regnete.
Dann ging das Licht aus.
21
N achdem sie Jack ins Bett gebracht hatte, schaute Lara noch bei den Zwillingen vorbei, die von Stephen jeweils mit einem eigenen Zimmer und der passenden Bettlektüre ausgestattet worden waren: für Olly war es ein Buch mit Gedichten von Byron, für Bella eine Monographie über Alice Neel. Dann ging sie nach unten auf die überdachte Veranda hinter dem Haus, wo Stephen im Schein einer Öllampe saß und in die Nacht hinausblickte. Um sie herum tobte unvermindert das Gewitter. Der Regen drückte das Gras nieder, sammelte sich in Löchern und verwandelte sie in Pfützen, die langsam zu Teichen wurden. Marcus, der den Portwein und dazu noch eine halbe Flasche Maker’s Mark ausgetrunken hatte, war auf dem Sofa eingeschlafen, und sein Schnarchen wetteiferte mit dem Donner darin, Lara den letzten Nerv zu rauben.
»Wer hätte gedacht, dass der alte Himmel noch so viel Wasser in sich hat«, sagte Lara, als sie sich in einem gewissen Abstand von Stephen auf der einzigen Sitzgelegenheit, einer gepolsterten Schaukel, niederließ.
Stephen lächelte und sah in den trüben Himmel. »Ich wünschte, es wäre ein wunderschöner Abend«, sagte er. »Bei klarem Wetter ist es paradiesisch hier. Wir hätten ein Lagerfeuer machen können. Und es ist die Jahreszeit für
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