Havelgeister (German Edition)
Prost!
Harald sah die beiden mit Zornesfalten auf der Stirn an und zischte: »Pssst.«
Der Professor aus Leipzig begann mit einem schweren Seufzer seinen Vortrag. »Ich bin Gerbrand Weißenstein und betreue neben dem Lehrstuhl für Früh- und altertümliche Geschichte auch die Bibliothek unserer Universität in Leipzig. In dieser Funktion hat mich Herr Staatssekretär Krusche …«, der Blick des Wissenschaftlers glitt zur Seite, »… also der Herr Staatssekretär hat mich gebeten, an dieser Pressekonferenz teilzunehmen.«
Im Saal erklang erstes Geplapper, Flüstertöne wurden hörbar. Der Professor schaute etwas konsterniert in die Kamera. Offensichtlich war er es wohl nur gewöhnt, vor Studenten zu sprechen, eine Meute Journalisten, die mit den Füßen scharrten und denen der Geifer schon aus dem Maul lief, stellten für ihn ein unbekanntes Publikum dar. Eine Unerfahrenheit, die schnell umkippen konnte. Es würde nicht mehr lange dauern, war sich Manzetti sicher, bis der Professor jäh unterbrochen würde, und dann flögen im übertragenen Sinn auch bald die ersten Tomaten.
Henry Wegmann war schließlich derjenige, der diesem Szenario zuvorkam. Manzetti konnte die krähengleiche Stimme aus tausend anderen herausfiltern.
»Herr Professor. Können wir uns die einleitenden Worte vielleicht sparen? Kommen Sie einfach zum Punkt.«
Der Professor sah wieder zur Seite, dieses Mal Hilfe suchend. Der Polizeipräsident war so freundlich und nickte ihm zu.
»Ja, also. Ich weile seit ein paar Tagen in Ihrer schönen Stadt«, fuhr der Wissenschaftler fort und wurde prompt für seine Worte belohnt. Aus einem Bereich, den die Kamera nicht einfing, schallten eindeutige Worte. »Komm zur Sache … Wird das hier eine Tourismusveranstaltung?«
Weißenstein wurde zusehends nervöser. Das hatten ihm seine Studenten wohl noch nicht geboten. Thomas Böttger stand dem Wissenschaftler für alle im Raum Anwesenden sichtbar bei, indem er seine gebräunte Hand auf den Unterarm des Mannes aus Leipzig legte. Umgehend verstummten die Zwischenrufe wieder.
»Das nenne ich Macht«, kommentierte Bremer. »Mit einer Geste fängt der feine Herr die unabhängige Presse ein.«
Weißenstein, wieder etwas mutiger, entließ einen weiteren, nicht minder tiefen Seufzer und kam endlich zum Kern.
»Ich betreue eine Ausstellung, die am Samstag eigentlich eröffnet werden sollte. Im Dom Ihrer Stadt sollten für einen Monat 47 Seiten des Codex Sinaiticus einem möglichst breiten Publikum zugänglich gemacht werden.«
»Codex Sinaiticus?«, fragte Harald über die Schulter. »Was’n das für’n Scheiß?«
»Pssst«, machte Bremer. »Hör hin, dann wirst du es bald wissen.« Dann streckte er Harald die Zunge heraus und lächelte breit.
Der Professor verschränkte währenddessen seine Finger ineinander und rutschte noch dichter ans Mikrofon heran. »Der Codex Sinaiticus ist ein zirka 1600 Jahre altes Bibelmanuskript, in dem auf Pergament große Teile des Alten und das gesamte Neue Testament niedergeschrieben sind. Es wurde 1844 von Konstantin von Tischendorf im Katharinenkloster am Berg Sinai entdeckt, als er dort im Auftrag des russischen Zaren Alexander II. nach alten Handschriften suchte.«
Es war wieder Wegmann, der sich zu Wort meldete. »Und warum sollte die Ausstellung eröffnet werden? Ist dieser Codex jetzt weg?«
Manzetti wunderte sich. Wie schnell doch Journalisten mit einer neuen Sensation abzulenken waren und von der alten, noch nicht einmal zu Ende recherchierten absahen.
Der Polizeipräsident übernahm die Antwort. »Ja«, sagte er mit sonorer Stimme. »Der Codex Sinaiticus wurde aus dem Dom gestohlen.«
Es brach ein einziges Rascheln los. Stimmen flogen durcheinander und auch der Kameramann schien die Übersicht zu verlieren. Er schwenkte wild im Auditorium hin und her, ohne aber den aktuellen Fragesteller zu erwischen. Rudi Freitag, der Pressesprecher des Polizeipräsidenten, erschien im Bild und hob beschwörend die Hände. »Meine Damen und Herren. Bitte einer nach dem anderen«, versuchte er die Meute in den Griff zu bekommen. »Vielleicht fangen wir hier vorne an.«
Der Mann, auf dessen Brust der Zeigefinger von Rudi Freitags rechter Hand zeigte, erhob sich. »Marquardt vom Tagesspiegel. Können Sie uns sagen, wie wertvoll dieser Codex ist? Kann man das vielleicht in Euro ausdrücken?«
Rudi Freitag drehte sich zur Seite und sah Professor Weißenstein an. Der hob die Schultern, versuchte dann aber doch eine Antwort. »Für
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