Havelgeister (German Edition)
mindestens weitere drei Wochen gebraucht hätte, um das neue Haus als sein Heim zu akzeptieren. Bislang aber war Manzettis schneller Entschluss ohne Folgen geblieben. Julius war immer pünktlich morgens um sechs auf der Terrasse erschienen, vollkommen ausgehungert.
Er trat auf die Straße und ging runter zum See, wobei er permanent seinen Lockruf ausstieß: »Julius … Julius Cäsar … Mulle, Mulle, Mulle.«
Am kleinen Strand setzte er sich ins Gras und blickte über die saftig grüne Wiese auf den See. Es war ein Naturschauspiel sondergleichen. In der Nacht hatte der Sommer seinen Rücktritt erklärt und der anrückende Herbst die Chance genutzt, erste Pflöcke einzuschlagen. Von Osten war eine kleine Kälte gekommen, eigentlich wie jedes Jahr, und doch für viele unerwartet. Sie war so tiefgreifend, dass sogar die Vögel schwiegen. Und die Sonne? Sie tat sich schwer mit diesem Morgen. Ihr fehlte es noch ein wenig an Kraft, um den Nebel über dem dampfenden See aufzulösen.
Die Idylle hätte fast perfekt sein können, wäre da nicht Julius Cäsar, der noch immer mit seiner beunruhigenden Abwesenheit glänzte.
In diese Welt hinein klingelte Manzettis Handy. Es war Bremer, was ihn wunderte, denn die Sonne war kaum höher als eine Hand breit über den Horizont gestiegen. »Morgen Bremer. Was treibt dich denn so früh aus den Federn, oder bist du gerade erst nach Hause gekommen?«
»Manzetti, du bist also schon wach. Das ist gut, dann kannst du auch gleich nach Brandenburg kommen. Wir treffen uns in einer Viertelstunde in der Rechtsmedizin. Beeil dich.«
»Warum?«, fragte Manzetti, denn er hatte, nachdem er den aktuellen Mordfall gestern an die Eliteermittler abgegeben hatte, nicht vor, mit deutscher Hektik in den Tag zu starten. Außerdem musste er Julius Cäsar finden, bevor seine Töchter ihm deshalb in den Ohren liegen würden.
»Frag nicht so blöd«, schnauzte Bremer. »Setz dich in dein Auto und komm einfach her.«
»Frühestens in einer Stunde«, schlug Manzetti vor. »Auf mich wartet noch die Dusche, und Kaffee habe ich auch noch nicht getrunken.«
Aber Bremer blieb hartnäckig. »Jetzt oder nie. Deine Kollegen haben sich gerade verabschiedet und sie haben sich reichlich komisch verhalten. Wenn meine Nase mich nicht täuscht, dann wittere ich eine Verschwörung.«
»Du übertreibst. Wenn du einen Rat zum Obduktionsbericht brauchst, dann schick ihn mir per E-Mail in die Direktion. Ich schau ihn mir dann im Laufe des Vormittags an.«
»Quatsch nicht«, raunzte Bremer ungehalten. »Sie haben ihn ausgedruckt und danach meine gesamte Festplatte gelöscht. Auch meine Aktsammlung ist weg. Außerdem soll die Leiche noch heute eingeäschert werden. Der Vater will es so. Los, beeil dich, wenn du an dem Fall des Jahrhunderts teilhaben willst.«
An dieser Stelle legte Bremer auf und ließ Manzetti mit der Nachricht allein.
Mit Zähneputzen, Rasieren, Deospray und Hineinspringen in stadtfeine Kleidung sowie einem schweren Bleifuß brauchte er nur fünfundzwanzig Minuten, dann schüttelte er Bremer zur Begrüßung die Hand.
»Sie haben sogar einen eigenen Rechtsmediziner angekarrt, dem ich assistieren durfte. Ich dachte erst, sie würden erneut die Leiche von Präsident Kennedy obduzieren wollen, so geheimnisvoll haben sie getan.«
Manzetti dachte an die Pressekonferenz, die sie gestern vor dem Fernseher verfolgt hatten und an Bremers Bemerkung zur Reinwaschung des Böttgersohnes.
»Und sie haben wirklich alles gelöscht?«, fragte er.
»Ja. Selbst Dateien, die uralt waren und nichts mit dem aktuellen Fall zu tun haben. Ich hatte nicht einmal die Möglichkeit mich darüber zu beschweren.«
»Warum nicht? Hat dir niemand zugehört?«
»Quatsch. Sie haben es heimlich getan. Ich habe es erst gemerkt, als sie schon weg waren.«
»Woran ist er denn nun gestorben?«, wollte Manzetti wissen und deutete auf die nackte Leiche, die noch immer mit geöffnetem Bauchraum auf dem Seziertisch lag.
Bremer stemmte sich aus dem Stuhl, auf dem er auf Manzetti gewartet hatte, und näherte sich dem Tisch. Als Manzetti ihm folgte, hob der Rechtsmediziner gerade den Unterarm des toten Jungen an und strich anschließend über dessen Hand. Es sah aus, als wollte er eine Tischdecke glätten.
»Was machst du da?«, fragte Manzetti.
»Guck her«, forderte Bremer und zog von Nepomuk Böttgers Handrücken eine Hautfalte nach oben.
»Und?«
»Sie bleibt stehen.« Bremer trat einen Schritt nach hinten, und wie er es angekündigt
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