Havelgeister (German Edition)
die Pergamentherstellung waren die Häute von siebenhundert Ziegen notwendig, was schon zur damaligen Zeit ein Vermögen darstellte.«
»Wie alt ist das Ding noch mal?«, kam schon die nächste Frage.
Die plötzlich einsetzende Dynamik war aus Manzettis Sicht frappierend, entsprach aber auch seinen Vorstellungen von der heutigen Medienwelt. Schnell, oberflächlich, stets etwas Neues und immer möglichst sensationell.
»Einige Forscher«, betonte Professor Weißenstein, »halten den Codex Sinaiticus für eines der fünfzig Exemplare, die Kaiser Konstantin als Förderer der christlichen Kirche um 320 in Auftrag gab.«
»Haben Sie keine Summe? Sie müssen doch irgendetwas bei der Versicherung angeben.«
Bremer stellte sein Glas neben sich auf den Boden. »Sind die bescheuert«, urteilte er schnell und zuverlässig. »Solche Schriften versichert dir niemand oder mit utopischen Prämien. Viel interessanter wäre doch, wer klaut so was? Das wirst du doch niemals wieder los.«
Das sah wohl auch Professor Weißenstein so. »Ich muss zugeben, dass der Codex nicht versichert ist. Wozu auch? Mit den 47 Blättern, die seit 1844 im Besitz der Universität Leipzig sind und die wir Ihrer Stadt als Leihgabe zur Verfügung gestellt haben, kann doch niemand etwas anfangen. Es wäre, als stählen sie die Mona Lisa.«
Die Kamera zoomte sich fast in das Gehirn des Professors. Unzählige Schweißperlen standen dem Mann auf der Stirn.
»Und was hat das alles mit dem Mord an Ihrem Sohn zu tun?«, ging die nächste Frage an Thomas Böttger.
Wie ein gestrenger Dirigent hatte irgendein Journalist das Orchester der Kollegen im Nu zum Schweigen gebracht. Weißenstein und sein Codex schienen vorerst völlig vergessen.
Auch Rudi Freitag wurde wieder wach. »Die Frage gebe ich besser an den Polizeipräsidenten weiter«, entschied er mit einem Seitenblick auf Böttger.
Der Präsident legte, als ihn die Kamera einfing, gerade eines seiner weißen Blätter zurück. »Nach unseren ersten Ermittlungen stehen das große Graffiti auf dem Dach des Doms und der Raub des Codex in einem engen Zusammenhang. Wir gehen derzeit davon aus, dass wir es hier mit ein und denselben Tätern zu tun haben.«
Manzetti verschluckte sich fast an dem Burgunder. »Habe ich da eben richtig gehört? Die klagen den Böttgersohn an und der Alte sitzt seelenruhig daneben?«
»Warte«, beruhigte Bremer und verwies auf den noch immer redenden Polizeipräsidenten.
»Wahrscheinlich, so das Ergebnis der ersten Vernehmungen, wollte Nepomuk Böttger sich am Diebstahl des wertvollen Dokumentes nicht beteiligen und drängte seine Mitstreiter dazu, von ihrem Vorhaben abzusehen. Dafür, und das ist doppelt tragisch, hat man ihn höchstwahrscheinlich getötet.«
»Wer … haben Sie schon einen Verdacht …«
Fragen über Fragen purzelten jetzt erneut durcheinander und verlangten nach der ordnenden Hand des Pressesprechers. Als wieder Ruhe eingezogen war, räusperte sich der Präsident in die Faust. »In diesem Zusammenhang suchen wir nach Kevin Schuster, siebzehn Jahre alt und wohnhaft in Brandenburg an der Havel.«
Das Bild des Präsidenten verschwand und wurde durch ein sogenanntes Dreiseitenbild aus Kevin Schusters Kriminalakte ersetzt.
»Nun weißt du, warum ihr raus seid, Manzetti«, kam es von Bremer. »Die Reinwaschung des Böttgersohnes hat soeben begonnen. Es würde mich nicht wundern, wenn er am Ende als Held dasteht.«
19
Die Obduktion von Nepomuk Böttger fand noch in der folgenden Nacht statt. Wie sonst nie war der große Sektionssaal bis auf den letzten Platz gefüllt. Die in dunkle Anzüge gehüllten Herren schwiegen während der gesamten Zeit, stellten keine Fragen und wurden erst aktiv, als Bremer seine Handschuhe längst abgestreift hatte. Sie löschten die Datei mit dem ersten Bericht von Bremers Computer, nachdem sie die gut zwanzig Seiten aus dem Drucker genommen hatten. So etwas hatte Bremer bislang noch nicht erlebt. Und das war längst nicht alles. Das LKA hatte auf Bitten des Generalstaatsanwaltes einen ihrer Rechtsmediziner geschickt, dem Bremer dann assistieren durfte. Nun saß dieser Dominik von Gohlsberg mit dem Rücken an der Wand auf dem gefliesten Fußboden und fing sich wohl gerade Hämorriden ein. Das passte irgendwie zu ihm, denn von Gohlsberg schien in Bremers Augen eher ein Mann zu sein, der seinen Doktortitel zwar mit summa cum laude erworben hatte, aber für das richtige Leben kaum tauglich schien. Der Sohn einer Berliner Arztfamilie
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